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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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steckte. Keinem Nimrod gelang es bisher, für sich und sein
Geschlecht die Bewohner des Weltalls in Ein Gehäge zusam-
men zu jagen und wenn es seit Jahrhunderten der Zweck des
verbündeten Europa wäre, die Glück-aufzwingende Tyrannin
aller Erdnationen zu seyn, so ist die Glückesgöttin noch weit
von ihrem Ziele. Schwach und kindisch wäre die schaffende
Mutter gewesen, die die ächte und einzige Bestimmung ihrer
Kinder, glücklich zu seyn, auf die Kunsträder einiger Spät-
linge gebauet und von ihren Händen den Zweck der Erde-
schöpfung erwartet hätte. Jhr Menschen aller Welttheile,
die ihr seit Aeonen dahingingt, ihr hättet also nicht gelebt und
etwa nur mit eurer Asche die Erde gedüngt, damit am Ende
der Zeit eure Nachkommen durch Europäische Cultur glücklich
würden; was fehlet einem stolzen Gedanken dieser Art, daß
er nicht Beleidigung der Natur-Majestät heiße?

Wenn Glückseligkeit auf der Erde anzutreffen ist: so ist
sie in jedem fühlenden Wesen; ja sie muß in ihm durch Natur
seyn und auch die helfende Kunst muß zum Genuß in ihm Na-
tur werden. Hier hat nun jeder Mensch das Maas seiner
Seligkeit in sich: er trägt die Form an sich, zu der er gebildet
worden und in deren reinem Umriß er allein glücklich werden
kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menschenfor-
men auf der Erde erschöpft, damit sie für jede derselben in ih-
rer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß hätte, mit dem sie
den Sterblichen durchs Leben hindurch täuschte.

Neuntes

ſteckte. Keinem Nimrod gelang es bisher, fuͤr ſich und ſein
Geſchlecht die Bewohner des Weltalls in Ein Gehaͤge zuſam-
men zu jagen und wenn es ſeit Jahrhunderten der Zweck des
verbuͤndeten Europa waͤre, die Gluͤck-aufzwingende Tyrannin
aller Erdnationen zu ſeyn, ſo iſt die Gluͤckesgoͤttin noch weit
von ihrem Ziele. Schwach und kindiſch waͤre die ſchaffende
Mutter geweſen, die die aͤchte und einzige Beſtimmung ihrer
Kinder, gluͤcklich zu ſeyn, auf die Kunſtraͤder einiger Spaͤt-
linge gebauet und von ihren Haͤnden den Zweck der Erde-
ſchoͤpfung erwartet haͤtte. Jhr Menſchen aller Welttheile,
die ihr ſeit Aeonen dahingingt, ihr haͤttet alſo nicht gelebt und
etwa nur mit eurer Aſche die Erde geduͤngt, damit am Ende
der Zeit eure Nachkommen durch Europaͤiſche Cultur gluͤcklich
wuͤrden; was fehlet einem ſtolzen Gedanken dieſer Art, daß
er nicht Beleidigung der Natur-Majeſtaͤt heiße?

Wenn Gluͤckſeligkeit auf der Erde anzutreffen iſt: ſo iſt
ſie in jedem fuͤhlenden Weſen; ja ſie muß in ihm durch Natur
ſeyn und auch die helfende Kunſt muß zum Genuß in ihm Na-
tur werden. Hier hat nun jeder Menſch das Maas ſeiner
Seligkeit in ſich: er traͤgt die Form an ſich, zu der er gebildet
worden und in deren reinem Umriß er allein gluͤcklich werden
kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menſchenfor-
men auf der Erde erſchoͤpft, damit ſie fuͤr jede derſelben in ih-
rer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß haͤtte, mit dem ſie
den Sterblichen durchs Leben hindurch taͤuſchte.

Neuntes
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[206/0218] ſteckte. Keinem Nimrod gelang es bisher, fuͤr ſich und ſein Geſchlecht die Bewohner des Weltalls in Ein Gehaͤge zuſam- men zu jagen und wenn es ſeit Jahrhunderten der Zweck des verbuͤndeten Europa waͤre, die Gluͤck-aufzwingende Tyrannin aller Erdnationen zu ſeyn, ſo iſt die Gluͤckesgoͤttin noch weit von ihrem Ziele. Schwach und kindiſch waͤre die ſchaffende Mutter geweſen, die die aͤchte und einzige Beſtimmung ihrer Kinder, gluͤcklich zu ſeyn, auf die Kunſtraͤder einiger Spaͤt- linge gebauet und von ihren Haͤnden den Zweck der Erde- ſchoͤpfung erwartet haͤtte. Jhr Menſchen aller Welttheile, die ihr ſeit Aeonen dahingingt, ihr haͤttet alſo nicht gelebt und etwa nur mit eurer Aſche die Erde geduͤngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch Europaͤiſche Cultur gluͤcklich wuͤrden; was fehlet einem ſtolzen Gedanken dieſer Art, daß er nicht Beleidigung der Natur-Majeſtaͤt heiße? Wenn Gluͤckſeligkeit auf der Erde anzutreffen iſt: ſo iſt ſie in jedem fuͤhlenden Weſen; ja ſie muß in ihm durch Natur ſeyn und auch die helfende Kunſt muß zum Genuß in ihm Na- tur werden. Hier hat nun jeder Menſch das Maas ſeiner Seligkeit in ſich: er traͤgt die Form an ſich, zu der er gebildet worden und in deren reinem Umriß er allein gluͤcklich werden kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menſchenfor- men auf der Erde erſchoͤpft, damit ſie fuͤr jede derſelben in ih- rer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß haͤtte, mit dem ſie den Sterblichen durchs Leben hindurch taͤuſchte. Neuntes

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/218>, abgerufen am 27.11.2024.