Nüchternheit und des stillen Genußes, eine Schwester der Gnügsamkeit und der Zufriedenheit mit deinem Daseyn im Leben und Tode.
Noch weniger ists begreiflich, wie der Mensch also für den Staat gemacht seyn soll, daß aus dessen Einrichtung noth- wendig seine erste wahre Glückseligkeit keime: denn wie viele Völker auf der Erde wissen von keinem Staat die dennoch glücklicher sind, als mancher gekreuzigte Staatswohlthäter. Jch will mich auf keinen Theil des Nutzens oder des Schadens einlassen, den diese künstliche Anstalten der Gesellschaft mit sich führen; da jede Kunst aber nur Werkzeug ist und das künst- lichste Werkzeug nothwendig den vorsichtigsten, feinsten Ge- brauch erfodert: so ist offenbar, daß mit der Größe der Staa- ten und mit der feinern Kunst ihrer Zusammensetzung noth- wendig auch die Gefahr, einzelne Unglückliche zu schaffen, un- ermeßlich zunimmt. Jn großen Staaten müssen Hunderte hungern, damit Einer praße und schwelge: Zehntausende wer- den gedrückt und in den Tod gejaget, damit Ein gekrönter Thor oder Weiser seine Phantasie ausführe. Ja endlich, da, wie alle Staatslehrer sagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maschine seyn muß, die nur der Gedanke Eines regieret; welche größere Glückseligkeit könnte es gewähren, in dieser Maschine als ein Gedankenloses Glied mitzudienen? Oder vielleicht gar wider besser Wissen und Gefühl, Lebenslang in ihr auf ein Rad Jxions geflochten zu seyn, das dem traurig-
ver-
Nuͤchternheit und des ſtillen Genußes, eine Schweſter der Gnuͤgſamkeit und der Zufriedenheit mit deinem Daſeyn im Leben und Tode.
Noch weniger iſts begreiflich, wie der Menſch alſo fuͤr den Staat gemacht ſeyn ſoll, daß aus deſſen Einrichtung noth- wendig ſeine erſte wahre Gluͤckſeligkeit keime: denn wie viele Voͤlker auf der Erde wiſſen von keinem Staat die dennoch gluͤcklicher ſind, als mancher gekreuzigte Staatswohlthaͤter. Jch will mich auf keinen Theil des Nutzens oder des Schadens einlaſſen, den dieſe kuͤnſtliche Anſtalten der Geſellſchaft mit ſich fuͤhren; da jede Kunſt aber nur Werkzeug iſt und das kuͤnſt- lichſte Werkzeug nothwendig den vorſichtigſten, feinſten Ge- brauch erfodert: ſo iſt offenbar, daß mit der Groͤße der Staa- ten und mit der feinern Kunſt ihrer Zuſammenſetzung noth- wendig auch die Gefahr, einzelne Ungluͤckliche zu ſchaffen, un- ermeßlich zunimmt. Jn großen Staaten muͤſſen Hunderte hungern, damit Einer praße und ſchwelge: Zehntauſende wer- den gedruͤckt und in den Tod gejaget, damit Ein gekroͤnter Thor oder Weiſer ſeine Phantaſie ausfuͤhre. Ja endlich, da, wie alle Staatslehrer ſagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maſchine ſeyn muß, die nur der Gedanke Eines regieret; welche groͤßere Gluͤckſeligkeit koͤnnte es gewaͤhren, in dieſer Maſchine als ein Gedankenloſes Glied mitzudienen? Oder vielleicht gar wider beſſer Wiſſen und Gefuͤhl, Lebenslang in ihr auf ein Rad Jxions geflochten zu ſeyn, das dem traurig-
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[204/0216]
Nuͤchternheit und des ſtillen Genußes, eine Schweſter der
Gnuͤgſamkeit und der Zufriedenheit mit deinem Daſeyn im
Leben und Tode.
Noch weniger iſts begreiflich, wie der Menſch alſo fuͤr
den Staat gemacht ſeyn ſoll, daß aus deſſen Einrichtung noth-
wendig ſeine erſte wahre Gluͤckſeligkeit keime: denn wie viele
Voͤlker auf der Erde wiſſen von keinem Staat die dennoch
gluͤcklicher ſind, als mancher gekreuzigte Staatswohlthaͤter.
Jch will mich auf keinen Theil des Nutzens oder des Schadens
einlaſſen, den dieſe kuͤnſtliche Anſtalten der Geſellſchaft mit
ſich fuͤhren; da jede Kunſt aber nur Werkzeug iſt und das kuͤnſt-
lichſte Werkzeug nothwendig den vorſichtigſten, feinſten Ge-
brauch erfodert: ſo iſt offenbar, daß mit der Groͤße der Staa-
ten und mit der feinern Kunſt ihrer Zuſammenſetzung noth-
wendig auch die Gefahr, einzelne Ungluͤckliche zu ſchaffen, un-
ermeßlich zunimmt. Jn großen Staaten muͤſſen Hunderte
hungern, damit Einer praße und ſchwelge: Zehntauſende wer-
den gedruͤckt und in den Tod gejaget, damit Ein gekroͤnter
Thor oder Weiſer ſeine Phantaſie ausfuͤhre. Ja endlich, da,
wie alle Staatslehrer ſagen, jeder wohleingerichtete Staat eine
Maſchine ſeyn muß, die nur der Gedanke Eines regieret;
welche groͤßere Gluͤckſeligkeit koͤnnte es gewaͤhren, in dieſer
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/216>, abgerufen am 27.11.2024.
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