aus den ersten Anlagen der Natur ergiebt: warum ein ta pfres und kühnes Volk d. i. tausend edle Männer und Wei- ber oft die Füße eines Schwachen küssen und den Scepter an- beten, womit ein Unsinniger sie blutig schlägt? welcher Gott oder Dämon es ihnen eingegeben, eigne Vernunft und Kräf- te, ja oft Leben und alle Rechte der Menschheit der Willkühr Eines zu überlassen und es sich zur höchsten Wohlfahrt und Freude zu rechnen, daß der Despot einen künftigen Despoten zeuge? -- Da, sage ich, alle diese Dinge dem ersten Anblick nach die verworrensten Räthsel der Menschheit scheinen und glücklicher oder unglücklicher Weise der größeste Theil der Er- de diese Regierungsformen nicht kennet: so können wir sie auch nicht unter die ersten, nothwendigen, allgemeinen Na- turgesetze der Menschheit rechnen. Mann und Weib, Vater und Sohn, Freund und Feind sind bestimmte Verhältnisse und Namen; aber Führer und König, ein erblicher Gesetzge- ber und Richter, ein willkührlicher Gebieter und Staatsver- weser für sich und alle seine noch Ungebohrnen -- diese Begriffe wollen eine andre Entwicklung, als wir ihnen hier zu geben vermögen. Gnug, daß wir die Erde bisher als ein Treibhaus natürlicher Sinne und Gaben, Geschicklichkei- ten und Künste, Seelenkräfte und Tugenden in ziemlich gro- ßer Verschiedenheit derselben bemerkt haben; wiefern sich nun der Mensch dadurch Glückseligkeit zu bauen berechtigt oder
fähig-
Jdeen,II.Th. B b
aus den erſten Anlagen der Natur ergiebt: warum ein ta pfres und kuͤhnes Volk d. i. tauſend edle Maͤnner und Wei- ber oft die Fuͤße eines Schwachen kuͤſſen und den Scepter an- beten, womit ein Unſinniger ſie blutig ſchlaͤgt? welcher Gott oder Daͤmon es ihnen eingegeben, eigne Vernunft und Kraͤf- te, ja oft Leben und alle Rechte der Menſchheit der Willkuͤhr Eines zu uͤberlaſſen und es ſich zur hoͤchſten Wohlfahrt und Freude zu rechnen, daß der Deſpot einen kuͤnftigen Deſpoten zeuge? — Da, ſage ich, alle dieſe Dinge dem erſten Anblick nach die verworrenſten Raͤthſel der Menſchheit ſcheinen und gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weiſe der groͤßeſte Theil der Er- de dieſe Regierungsformen nicht kennet: ſo koͤnnen wir ſie auch nicht unter die erſten, nothwendigen, allgemeinen Na- turgeſetze der Menſchheit rechnen. Mann und Weib, Vater und Sohn, Freund und Feind ſind beſtimmte Verhaͤltniſſe und Namen; aber Fuͤhrer und Koͤnig, ein erblicher Geſetzge- ber und Richter, ein willkuͤhrlicher Gebieter und Staatsver- weſer fuͤr ſich und alle ſeine noch Ungebohrnen — dieſe Begriffe wollen eine andre Entwicklung, als wir ihnen hier zu geben vermoͤgen. Gnug, daß wir die Erde bisher als ein Treibhaus natuͤrlicher Sinne und Gaben, Geſchicklichkei- ten und Kuͤnſte, Seelenkraͤfte und Tugenden in ziemlich gro- ßer Verſchiedenheit derſelben bemerkt haben; wiefern ſich nun der Menſch dadurch Gluͤckſeligkeit zu bauen berechtigt oder
faͤhig-
Jdeen,II.Th. B b
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aus den erſten Anlagen der Natur ergiebt: warum ein ta
pfres und kuͤhnes Volk d. i. tauſend edle Maͤnner und Wei-
ber oft die Fuͤße eines Schwachen kuͤſſen und den Scepter an-
beten, womit ein Unſinniger ſie blutig ſchlaͤgt? welcher Gott
oder Daͤmon es ihnen eingegeben, eigne Vernunft und Kraͤf-
te, ja oft Leben und alle Rechte der Menſchheit der Willkuͤhr
Eines zu uͤberlaſſen und es ſich zur hoͤchſten Wohlfahrt und
Freude zu rechnen, daß der Deſpot einen kuͤnftigen Deſpoten
zeuge? — Da, ſage ich, alle dieſe Dinge dem erſten Anblick
nach die verworrenſten Raͤthſel der Menſchheit ſcheinen und
gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weiſe der groͤßeſte Theil der Er-
de dieſe Regierungsformen nicht kennet: ſo koͤnnen wir ſie
auch nicht unter die erſten, nothwendigen, allgemeinen Na-
turgeſetze der Menſchheit rechnen. Mann und Weib, Vater
und Sohn, Freund und Feind ſind beſtimmte Verhaͤltniſſe
und Namen; aber Fuͤhrer und Koͤnig, ein erblicher Geſetzge-
ber und Richter, ein willkuͤhrlicher Gebieter und Staatsver-
weſer fuͤr ſich und alle ſeine noch Ungebohrnen — dieſe
Begriffe wollen eine andre Entwicklung, als wir ihnen hier
zu geben vermoͤgen. Gnug, daß wir die Erde bisher als
ein Treibhaus natuͤrlicher Sinne und Gaben, Geſchicklichkei-
ten und Kuͤnſte, Seelenkraͤfte und Tugenden in ziemlich gro-
ßer Verſchiedenheit derſelben bemerkt haben; wiefern ſich nun
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/205>, abgerufen am 28.11.2024.
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