nur die verderbtesten Verfassungen der Gesellschaft vermoch- ten etwa mit der Zeit das weiche Laster süßer zu machen als jene zarte Quaal mütterlicher Liebe. Die Grönländerin säugt ihren Sohn bis ins dritte, vierte Jahr, weil das Klima ihr keine Kinderspeisen darbeut: sie erträgt von ihm alle Unarten des keimenden männlichen Uebermuths mit nachsehender Dul- dung. Mit mehr als Manneskraft ist die Negerin gewafnet, wenn ein Ungeheuer ihr Kind anfällt; mit staunender Ver- wunderung lieset man die Beispiele ihrer das Leben verach- tenden mütterlichen Großmuth. Wenn endlich der Tod der zärtlichen Mutter, die wir eine Wilde nennen, ihren besten Trost, den Werth und die Sorge ihres Lebens raubt; man lese bei Carvera) die Klage der Nadoweßerinn, die ihren Mann und ihren vierjährigen Sohn verlohren hatte: das Gefühl, das in ihr herrscht, ist über alle Beschreibung. -- Was fehlet also diesen Nationen an Empfindungen der wah- ren weiblichen Humanität, wenn nicht etwa der Mangel und die traurige Noth oder ein falscher Punkt der Ehre und eine geerbte rohe Sitte sie hie und da auf Jrrwege leiten? Die Keime zum Gefühl alles Großen und Edeln liegen nicht nur allenthalben da; sondern sie sind auch überall ausgebildet,
nach-
a)Carver's Reisen S. 338. u. f.
A a 2
nur die verderbteſten Verfaſſungen der Geſellſchaft vermoch- ten etwa mit der Zeit das weiche Laſter ſuͤßer zu machen als jene zarte Quaal muͤtterlicher Liebe. Die Groͤnlaͤnderin ſaͤugt ihren Sohn bis ins dritte, vierte Jahr, weil das Klima ihr keine Kinderſpeiſen darbeut: ſie ertraͤgt von ihm alle Unarten des keimenden maͤnnlichen Uebermuths mit nachſehender Dul- dung. Mit mehr als Manneskraft iſt die Negerin gewafnet, wenn ein Ungeheuer ihr Kind anfaͤllt; mit ſtaunender Ver- wunderung lieſet man die Beiſpiele ihrer das Leben verach- tenden muͤtterlichen Großmuth. Wenn endlich der Tod der zaͤrtlichen Mutter, die wir eine Wilde nennen, ihren beſten Troſt, den Werth und die Sorge ihres Lebens raubt; man leſe bei Carvera) die Klage der Nadoweßerinn, die ihren Mann und ihren vierjaͤhrigen Sohn verlohren hatte: das Gefuͤhl, das in ihr herrſcht, iſt uͤber alle Beſchreibung. — Was fehlet alſo dieſen Nationen an Empfindungen der wah- ren weiblichen Humanitaͤt, wenn nicht etwa der Mangel und die traurige Noth oder ein falſcher Punkt der Ehre und eine geerbte rohe Sitte ſie hie und da auf Jrrwege leiten? Die Keime zum Gefuͤhl alles Großen und Edeln liegen nicht nur allenthalben da; ſondern ſie ſind auch uͤberall ausgebildet,
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a)Carver's Reiſen S. 338. u. f.
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nur die verderbteſten Verfaſſungen der Geſellſchaft vermoch-
ten etwa mit der Zeit das weiche Laſter ſuͤßer zu machen als
jene zarte Quaal muͤtterlicher Liebe. Die Groͤnlaͤnderin ſaͤugt
ihren Sohn bis ins dritte, vierte Jahr, weil das Klima ihr
keine Kinderſpeiſen darbeut: ſie ertraͤgt von ihm alle Unarten
des keimenden maͤnnlichen Uebermuths mit nachſehender Dul-
dung. Mit mehr als Manneskraft iſt die Negerin gewafnet,
wenn ein Ungeheuer ihr Kind anfaͤllt; mit ſtaunender Ver-
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tenden muͤtterlichen Großmuth. Wenn endlich der Tod der
zaͤrtlichen Mutter, die wir eine Wilde nennen, ihren beſten
Troſt, den Werth und die Sorge ihres Lebens raubt; man
leſe bei Carver a) die Klage der Nadoweßerinn, die ihren
Mann und ihren vierjaͤhrigen Sohn verlohren hatte: das
Gefuͤhl, das in ihr herrſcht, iſt uͤber alle Beſchreibung. —
Was fehlet alſo dieſen Nationen an Empfindungen der wah-
ren weiblichen Humanitaͤt, wenn nicht etwa der Mangel und
die traurige Noth oder ein falſcher Punkt der Ehre und eine
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/199>, abgerufen am 24.11.2024.
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