IV. Die Empfindungen und Triebe der Menschen sind allenthalben dem Zustande, worinn sie leben und ihrer Organisation gemäß; allenthalben aber werden sie von Meinungen und von der Gewohnheit regieret.
Selbsterhaltung ist das erste, wozu ein Wesen da ist: vom Staubkorn bis zur Sonne strebt jedes Ding, was es ist, zu bleiben; dazu ist den Thieren Jnstinkt eingeprägt: dazu ist dem Menschen sein Analogon des Jnstinkts oder der Vernunft gegeben. Gehorchend diesem Gesetz suchet er sich, durch den wilden Hunger gezwungen, überall seine Speise: er strebt, ohne daß er weiß warum und wozu? von Kindheit auf nach Uebung seiner Kräfte, nach Bewegung. Der Matte ruft den Schlummer nicht; aber der Schlummer kommt und er- neuet ihm sein Daseyn: dem Kranken hilft, wenn sie kann, die innere Lebenskraft oder sie verlanget wenigstens und ächzet. Seines Lebens wehret sich der Mensch gegen Alles, was ihn anficht und auch ohne daß ers weiß, hat die Natur in ihm und um ihn her Anstalten gemacht, ihn dabei zu unterstützen, zu wahren, zu erhalten.
Es
IV. Die Empfindungen und Triebe der Menſchen ſind allenthalben dem Zuſtande, worinn ſie leben und ihrer Organiſation gemaͤß; allenthalben aber werden ſie von Meinungen und von der Gewohnheit regieret.
Selbſterhaltung iſt das erſte, wozu ein Weſen da iſt: vom Staubkorn bis zur Sonne ſtrebt jedes Ding, was es iſt, zu bleiben; dazu iſt den Thieren Jnſtinkt eingepraͤgt: dazu iſt dem Menſchen ſein Analogon des Jnſtinkts oder der Vernunft gegeben. Gehorchend dieſem Geſetz ſuchet er ſich, durch den wilden Hunger gezwungen, uͤberall ſeine Speiſe: er ſtrebt, ohne daß er weiß warum und wozu? von Kindheit auf nach Uebung ſeiner Kraͤfte, nach Bewegung. Der Matte ruft den Schlummer nicht; aber der Schlummer kommt und er- neuet ihm ſein Daſeyn: dem Kranken hilft, wenn ſie kann, die innere Lebenskraft oder ſie verlanget wenigſtens und aͤchzet. Seines Lebens wehret ſich der Menſch gegen Alles, was ihn anficht und auch ohne daß ers weiß, hat die Natur in ihm und um ihn her Anſtalten gemacht, ihn dabei zu unterſtuͤtzen, zu wahren, zu erhalten.
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IV.
Die Empfindungen und Triebe der Menſchen ſind
allenthalben dem Zuſtande, worinn ſie leben
und ihrer Organiſation gemaͤß; allenthalben
aber werden ſie von Meinungen und von der
Gewohnheit regieret.
Selbſterhaltung iſt das erſte, wozu ein Weſen da iſt: vom
Staubkorn bis zur Sonne ſtrebt jedes Ding, was es iſt, zu
bleiben; dazu iſt den Thieren Jnſtinkt eingepraͤgt: dazu iſt
dem Menſchen ſein Analogon des Jnſtinkts oder der Vernunft
gegeben. Gehorchend dieſem Geſetz ſuchet er ſich, durch den
wilden Hunger gezwungen, uͤberall ſeine Speiſe: er ſtrebt,
ohne daß er weiß warum und wozu? von Kindheit auf nach
Uebung ſeiner Kraͤfte, nach Bewegung. Der Matte ruft
den Schlummer nicht; aber der Schlummer kommt und er-
neuet ihm ſein Daſeyn: dem Kranken hilft, wenn ſie kann,
die innere Lebenskraft oder ſie verlanget wenigſtens und aͤchzet.
Seines Lebens wehret ſich der Menſch gegen Alles, was ihn
anficht und auch ohne daß ers weiß, hat die Natur in ihm und
um ihn her Anſtalten gemacht, ihn dabei zu unterſtuͤtzen, zu
wahren, zu erhalten.
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/184>, abgerufen am 16.02.2025.
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