in ihren feinsten organischen Faltungen vererbte? Unter man- chen Nationen herrschen Krankheiten der Phantasie, von de- nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbrüder des Kranken schonen sein Uebel, weil sie die genetische Disposition dazu in sich fühlen. Unter den tapfern und gesunden Abiponern z. B. herrscht ein periodischer Wahnsinn, von welchem in den Zwi- schenstunden der Wütende nichts weiß: er ist gesund, wie er gesund war; nur seine Seele, sagen sie, ist nicht bei ihm. Unter mehrern Völkern hat man, diesem Uebel Ausbruch zu geben, Traumfeste verordnet, da dem Träumenden alles, was ihm sein Geist befiehlt, zu thun erlaubt ist. Ueberhaupt sind bei allen Phantasiereichen Völkern die Träume wunderbar mächtig; ja wahrscheinlich waren auch Träume die ersten Mu- sen, die Mütter der eigentlichen Fiction und Dichtkunst. Sie brachten die Menschen auf Gestalten und Dinge, die kein Auge gesehen hatte, deren Wunsch aber in der menschlichen Seele lag: denn was z. B. war natürlicher, als daß geliebte Ver- storbene dem Hinterlassenen in Träumen erschienen und daß die so lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigstens als Schatten im Traum mit uns zu leben wünschten. Die Geschichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorsehung das Organ der Einbildung, wodurch sie so stark, so rein und na- türlich auf Menschen wirken konnte, gebraucht habe; abscheu- lich aber wars, wenn der Betrug oder der Despotismus es
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in ihren feinſten organiſchen Faltungen vererbte? Unter man- chen Nationen herrſchen Krankheiten der Phantaſie, von de- nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbruͤder des Kranken ſchonen ſein Uebel, weil ſie die genetiſche Diſpoſition dazu in ſich fuͤhlen. Unter den tapfern und geſunden Abiponern z. B. herrſcht ein periodiſcher Wahnſinn, von welchem in den Zwi- ſchenſtunden der Wuͤtende nichts weiß: er iſt geſund, wie er geſund war; nur ſeine Seele, ſagen ſie, iſt nicht bei ihm. Unter mehrern Voͤlkern hat man, dieſem Uebel Ausbruch zu geben, Traumfeſte verordnet, da dem Traͤumenden alles, was ihm ſein Geiſt befiehlt, zu thun erlaubt iſt. Ueberhaupt ſind bei allen Phantaſiereichen Voͤlkern die Traͤume wunderbar maͤchtig; ja wahrſcheinlich waren auch Traͤume die erſten Mu- ſen, die Muͤtter der eigentlichen Fiction und Dichtkunſt. Sie brachten die Menſchen auf Geſtalten und Dinge, die kein Auge geſehen hatte, deren Wunſch aber in der menſchlichen Seele lag: denn was z. B. war natuͤrlicher, als daß geliebte Ver- ſtorbene dem Hinterlaſſenen in Traͤumen erſchienen und daß die ſo lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigſtens als Schatten im Traum mit uns zu leben wuͤnſchten. Die Geſchichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorſehung das Organ der Einbildung, wodurch ſie ſo ſtark, ſo rein und na- tuͤrlich auf Menſchen wirken konnte, gebraucht habe; abſcheu- lich aber wars, wenn der Betrug oder der Deſpotismus es
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in ihren feinſten organiſchen Faltungen vererbte? Unter man-
chen Nationen herrſchen Krankheiten der Phantaſie, von de-
nen wir keinen Begrif haben: alle Mitbruͤder des Kranken
ſchonen ſein Uebel, weil ſie die genetiſche Diſpoſition dazu in
ſich fuͤhlen. Unter den tapfern und geſunden Abiponern z. B.
herrſcht ein periodiſcher Wahnſinn, von welchem in den Zwi-
ſchenſtunden der Wuͤtende nichts weiß: er iſt geſund, wie er
geſund war; nur ſeine Seele, ſagen ſie, iſt nicht bei ihm.
Unter mehrern Voͤlkern hat man, dieſem Uebel Ausbruch zu
geben, Traumfeſte verordnet, da dem Traͤumenden alles, was
ihm ſein Geiſt befiehlt, zu thun erlaubt iſt. Ueberhaupt ſind
bei allen Phantaſiereichen Voͤlkern die Traͤume wunderbar
maͤchtig; ja wahrſcheinlich waren auch Traͤume die erſten Mu-
ſen, die Muͤtter der eigentlichen Fiction und Dichtkunſt. Sie
brachten die Menſchen auf Geſtalten und Dinge, die kein Auge
geſehen hatte, deren Wunſch aber in der menſchlichen Seele
lag: denn was z. B. war natuͤrlicher, als daß geliebte Ver-
ſtorbene dem Hinterlaſſenen in Traͤumen erſchienen und daß
die ſo lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigſtens
als Schatten im Traum mit uns zu leben wuͤnſchten. Die
Geſchichte der Nationen wird zeigen, wie die Vorſehung das
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/168>, abgerufen am 21.11.2024.
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