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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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Stärke ihrer vielfachern Natur abgerechnet) anders wäre?
Gewächse, die in warmen Ländern zur Baumesgröße wach-
sen, bleiben in kalten Gegenden kleine Krüppel. Diese Pflan-
ze ist für das Meer, jene für den Sumpf, diese für Quellen
und Seen geschaffen; die eine liebt den Schnee, die andre
den überschwemmenden Regen der heissen Zone; und alles
dies charakterisirt ihre Gestalt, ihre Bildung. Bereitet uns
dieses alles nicht vor, auch in Ansehung des organischen Ge-
bäudes der Menschheit, sofern wir Pflanzen sind, dieselbe
Varietäten zu erwarten?

Jnsonderheit ist es angenehm, die eigne Art zu bemer-
ken, mit der die Gewächse sich nach der Jahreszeit, ja gar
nach der Stunde des Tages richten und sich nur allmälich
zu einem fremden Clima gewöhnen. Näher am Pol ver-
späten sie sich im Wachsen und reifen desto schneller, weil der
Sommer später kommt und stärker wirket. Pflanzen, die
in den südlichen Welttheilen gewachsen, nach Europa ge-
bracht wurden, reiften das erste Jahr später, weil sie noch
die Sonne ihres Clima erwarteten; den folgenden Sommer
allmälich geschwinder, weil sie sich schon zu diesem Luftstrich
gewöhnten. Jn der künstlichen Wärme des Treibhauses
hielt jede noch die Zeit ihres Vaterlandes, wenn sie auch 50
Jahr in Europa gewesen war. Die Pflanzen vom Cap

blü-

Staͤrke ihrer vielfachern Natur abgerechnet) anders waͤre?
Gewaͤchſe, die in warmen Laͤndern zur Baumesgroͤße wach-
ſen, bleiben in kalten Gegenden kleine Kruͤppel. Dieſe Pflan-
ze iſt fuͤr das Meer, jene fuͤr den Sumpf, dieſe fuͤr Quellen
und Seen geſchaffen; die eine liebt den Schnee, die andre
den uͤberſchwemmenden Regen der heiſſen Zone; und alles
dies charakteriſirt ihre Geſtalt, ihre Bildung. Bereitet uns
dieſes alles nicht vor, auch in Anſehung des organiſchen Ge-
baͤudes der Menſchheit, ſofern wir Pflanzen ſind, dieſelbe
Varietaͤten zu erwarten?

Jnſonderheit iſt es angenehm, die eigne Art zu bemer-
ken, mit der die Gewaͤchſe ſich nach der Jahreszeit, ja gar
nach der Stunde des Tages richten und ſich nur allmaͤlich
zu einem fremden Clima gewoͤhnen. Naͤher am Pol ver-
ſpaͤten ſie ſich im Wachſen und reifen deſto ſchneller, weil der
Sommer ſpaͤter kommt und ſtaͤrker wirket. Pflanzen, die
in den ſuͤdlichen Welttheilen gewachſen, nach Europa ge-
bracht wurden, reiften das erſte Jahr ſpaͤter, weil ſie noch
die Sonne ihres Clima erwarteten; den folgenden Sommer
allmaͤlich geſchwinder, weil ſie ſich ſchon zu dieſem Luftſtrich
gewoͤhnten. Jn der kuͤnſtlichen Waͤrme des Treibhauſes
hielt jede noch die Zeit ihres Vaterlandes, wenn ſie auch 50
Jahr in Europa geweſen war. Die Pflanzen vom Cap

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[74/0096] Staͤrke ihrer vielfachern Natur abgerechnet) anders waͤre? Gewaͤchſe, die in warmen Laͤndern zur Baumesgroͤße wach- ſen, bleiben in kalten Gegenden kleine Kruͤppel. Dieſe Pflan- ze iſt fuͤr das Meer, jene fuͤr den Sumpf, dieſe fuͤr Quellen und Seen geſchaffen; die eine liebt den Schnee, die andre den uͤberſchwemmenden Regen der heiſſen Zone; und alles dies charakteriſirt ihre Geſtalt, ihre Bildung. Bereitet uns dieſes alles nicht vor, auch in Anſehung des organiſchen Ge- baͤudes der Menſchheit, ſofern wir Pflanzen ſind, dieſelbe Varietaͤten zu erwarten? Jnſonderheit iſt es angenehm, die eigne Art zu bemer- ken, mit der die Gewaͤchſe ſich nach der Jahreszeit, ja gar nach der Stunde des Tages richten und ſich nur allmaͤlich zu einem fremden Clima gewoͤhnen. Naͤher am Pol ver- ſpaͤten ſie ſich im Wachſen und reifen deſto ſchneller, weil der Sommer ſpaͤter kommt und ſtaͤrker wirket. Pflanzen, die in den ſuͤdlichen Welttheilen gewachſen, nach Europa ge- bracht wurden, reiften das erſte Jahr ſpaͤter, weil ſie noch die Sonne ihres Clima erwarteten; den folgenden Sommer allmaͤlich geſchwinder, weil ſie ſich ſchon zu dieſem Luftſtrich gewoͤhnten. Jn der kuͤnſtlichen Waͤrme des Treibhauſes hielt jede noch die Zeit ihres Vaterlandes, wenn ſie auch 50 Jahr in Europa geweſen war. Die Pflanzen vom Cap bluͤ-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/96>, abgerufen am 24.11.2024.