IV. Unsre Erde ist eine Kugel, die sich um sich selbst; und gegen die Sonne in schiefer Richtung beweget.
Wie der Cirkel die vollkommenste Figur ist, indem er un- ter allen Gestalten die größeste Fläche in der leichtesten Con- struction einschließt und bey der schönsten Einfalt die reich- ste Mannichfaltigkeit mit sich führet: so ist unsre Erde, so sind alle Planeten und Sonnen, als Kugelgestalten, mithin als Entwürfe der einfachsten Fülle, des bescheidensten Reich- thums aus den Händen der Natur geworfen. Erstaunen muß man über die Vielheit der Abänderungen, die auf un- srer Erde wirklich sind; noch mehr erstaunen aber über die Einheit, der diese unbegreifliche Mannichfaltigkeit dienet. Es ist ein Zeichen der tiefen nordischen Barbarei, in der wir die Unsrigen erziehen, daß wir ihnen nicht von Jugend auf einen tiefen Eindruck dieser Schöne, der Einheit und Mannichfaltigkeit auf unsrer Erde, geben. Jch wünschte, mein Buch erreichte nur einige Striche zu Darstellung die- ser großen Aussicht, die mich seit meiner frühesten Selbst- bildung erfaßt hat und mich zuerst auf das weite Meer freier
Begriffe
IV. Unſre Erde iſt eine Kugel, die ſich um ſich ſelbſt; und gegen die Sonne in ſchiefer Richtung beweget.
Wie der Cirkel die vollkommenſte Figur iſt, indem er un- ter allen Geſtalten die groͤßeſte Flaͤche in der leichteſten Con- ſtruction einſchließt und bey der ſchoͤnſten Einfalt die reich- ſte Mannichfaltigkeit mit ſich fuͤhret: ſo iſt unſre Erde, ſo ſind alle Planeten und Sonnen, als Kugelgeſtalten, mithin als Entwuͤrfe der einfachſten Fuͤlle, des beſcheidenſten Reich- thums aus den Haͤnden der Natur geworfen. Erſtaunen muß man uͤber die Vielheit der Abaͤnderungen, die auf un- ſrer Erde wirklich ſind; noch mehr erſtaunen aber uͤber die Einheit, der dieſe unbegreifliche Mannichfaltigkeit dienet. Es iſt ein Zeichen der tiefen nordiſchen Barbarei, in der wir die Unſrigen erziehen, daß wir ihnen nicht von Jugend auf einen tiefen Eindruck dieſer Schoͤne, der Einheit und Mannichfaltigkeit auf unſrer Erde, geben. Jch wuͤnſchte, mein Buch erreichte nur einige Striche zu Darſtellung die- ſer großen Ausſicht, die mich ſeit meiner fruͤheſten Selbſt- bildung erfaßt hat und mich zuerſt auf das weite Meer freier
Begriffe
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0044"n="22"/><divn="2"><head><hirendition="#aq">IV.</hi><lb/>
Unſre Erde iſt eine Kugel, die ſich um ſich<lb/>ſelbſt; und gegen die Sonne in ſchiefer<lb/>
Richtung beweget.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>ie der Cirkel die vollkommenſte Figur iſt, indem er un-<lb/>
ter allen Geſtalten die groͤßeſte Flaͤche in der leichteſten Con-<lb/>ſtruction einſchließt und bey der ſchoͤnſten Einfalt die reich-<lb/>ſte Mannichfaltigkeit mit ſich fuͤhret: ſo iſt unſre Erde, ſo<lb/>ſind alle Planeten und Sonnen, als Kugelgeſtalten, mithin<lb/>
als Entwuͤrfe der einfachſten Fuͤlle, des beſcheidenſten Reich-<lb/>
thums aus den Haͤnden der Natur geworfen. Erſtaunen<lb/>
muß man uͤber die Vielheit der Abaͤnderungen, die auf un-<lb/>ſrer Erde wirklich ſind; noch mehr erſtaunen aber uͤber die<lb/>
Einheit, der dieſe unbegreifliche Mannichfaltigkeit dienet.<lb/>
Es iſt ein Zeichen der tiefen nordiſchen Barbarei, in der<lb/>
wir die Unſrigen erziehen, daß wir ihnen nicht von Jugend<lb/>
auf einen tiefen Eindruck dieſer Schoͤne, der Einheit und<lb/>
Mannichfaltigkeit auf unſrer Erde, geben. Jch wuͤnſchte,<lb/>
mein Buch erreichte nur einige Striche zu Darſtellung die-<lb/>ſer großen Ausſicht, die mich ſeit meiner fruͤheſten Selbſt-<lb/>
bildung erfaßt hat und mich zuerſt auf das weite Meer freier<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Begriffe</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[22/0044]
IV.
Unſre Erde iſt eine Kugel, die ſich um ſich
ſelbſt; und gegen die Sonne in ſchiefer
Richtung beweget.
Wie der Cirkel die vollkommenſte Figur iſt, indem er un-
ter allen Geſtalten die groͤßeſte Flaͤche in der leichteſten Con-
ſtruction einſchließt und bey der ſchoͤnſten Einfalt die reich-
ſte Mannichfaltigkeit mit ſich fuͤhret: ſo iſt unſre Erde, ſo
ſind alle Planeten und Sonnen, als Kugelgeſtalten, mithin
als Entwuͤrfe der einfachſten Fuͤlle, des beſcheidenſten Reich-
thums aus den Haͤnden der Natur geworfen. Erſtaunen
muß man uͤber die Vielheit der Abaͤnderungen, die auf un-
ſrer Erde wirklich ſind; noch mehr erſtaunen aber uͤber die
Einheit, der dieſe unbegreifliche Mannichfaltigkeit dienet.
Es iſt ein Zeichen der tiefen nordiſchen Barbarei, in der
wir die Unſrigen erziehen, daß wir ihnen nicht von Jugend
auf einen tiefen Eindruck dieſer Schoͤne, der Einheit und
Mannichfaltigkeit auf unſrer Erde, geben. Jch wuͤnſchte,
mein Buch erreichte nur einige Striche zu Darſtellung die-
ſer großen Ausſicht, die mich ſeit meiner fruͤheſten Selbſt-
bildung erfaßt hat und mich zuerſt auf das weite Meer freier
Begriffe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/44>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.