Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

ewiger Wohnung. Wir kommen und gehen: jeder Augen-
blick bringt tausende her und nimmt tausende hinweg von
der Erde: sie ist eine Herberge für Wandrer, ein Jrrstern,
auf dem Zugvögel ankommen und Zugvögel wegeilen. Das
Thier lebt sich aus und wenn es auch höhern Zwecken zu
Folge sich den Jahren nach nicht auslebet: so ist doch sein
innerer Zweck erreicht; seine Geschicklichkeiten sind da und
es ist was es seyn soll. Der Mensch allein ist im Wider-
spruch mit sich und mit der Erde: denn das ausgebildetste
Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das un-
ausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn er Le-
benssatt aus der Welt wandert. Die Ursache ist offenbar
die, daß sein Zustand, der letzte für diese Erde, zugleich der
erste für ein andres Daseyn ist, gegen den er wie ein Kind in
den ersten Uebungen hier erscheinet. Er stellet also zwo Wel-
ten auf einmal dar; und das macht die anscheinende Dupli-
cität seines Wesens.

2. Sofort wird klar, welcher Theil bei den meisten
hienieden der herrschende seyn werde. Der größeste Theil
des Menschen ist Thier; zur Humanität hat er blos die Fä-
higkeit auf die Welt gebracht und sie muß ihm durch Mühe
und Fleiß erst angebildet werden. Wie Wenigen ist es nun
auf die rechte Weise angebildet worden! und auch bei

den

ewiger Wohnung. Wir kommen und gehen: jeder Augen-
blick bringt tauſende her und nimmt tauſende hinweg von
der Erde: ſie iſt eine Herberge fuͤr Wandrer, ein Jrrſtern,
auf dem Zugvoͤgel ankommen und Zugvoͤgel wegeilen. Das
Thier lebt ſich aus und wenn es auch hoͤhern Zwecken zu
Folge ſich den Jahren nach nicht auslebet: ſo iſt doch ſein
innerer Zweck erreicht; ſeine Geſchicklichkeiten ſind da und
es iſt was es ſeyn ſoll. Der Menſch allein iſt im Wider-
ſpruch mit ſich und mit der Erde: denn das ausgebildetſte
Geſchoͤpf unter allen ihren Organiſationen iſt zugleich das un-
ausgebildetſte in ſeiner eignen neuen Anlage, auch wenn er Le-
bensſatt aus der Welt wandert. Die Urſache iſt offenbar
die, daß ſein Zuſtand, der letzte fuͤr dieſe Erde, zugleich der
erſte fuͤr ein andres Daſeyn iſt, gegen den er wie ein Kind in
den erſten Uebungen hier erſcheinet. Er ſtellet alſo zwo Wel-
ten auf einmal dar; und das macht die anſcheinende Dupli-
citaͤt ſeines Weſens.

2. Sofort wird klar, welcher Theil bei den meiſten
hienieden der herrſchende ſeyn werde. Der groͤßeſte Theil
des Menſchen iſt Thier; zur Humanitaͤt hat er blos die Faͤ-
higkeit auf die Welt gebracht und ſie muß ihm durch Muͤhe
und Fleiß erſt angebildet werden. Wie Wenigen iſt es nun
auf die rechte Weiſe angebildet worden! und auch bei

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0312" n="310[290]"/>
ewiger Wohnung. Wir kommen und gehen: jeder Augen-<lb/>
blick bringt tau&#x017F;ende her und nimmt tau&#x017F;ende hinweg von<lb/>
der Erde: &#x017F;ie i&#x017F;t eine Herberge fu&#x0364;r Wandrer, ein Jrr&#x017F;tern,<lb/>
auf dem Zugvo&#x0364;gel ankommen und Zugvo&#x0364;gel wegeilen. Das<lb/>
Thier lebt &#x017F;ich aus und wenn es auch ho&#x0364;hern Zwecken zu<lb/>
Folge &#x017F;ich den Jahren nach nicht auslebet: &#x017F;o i&#x017F;t doch &#x017F;ein<lb/>
innerer Zweck erreicht; &#x017F;eine Ge&#x017F;chicklichkeiten &#x017F;ind da und<lb/>
es i&#x017F;t was es &#x017F;eyn &#x017F;oll. Der Men&#x017F;ch allein i&#x017F;t im Wider-<lb/>
&#x017F;pruch mit &#x017F;ich und mit der Erde: denn das ausgebildet&#x017F;te<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pf unter allen ihren Organi&#x017F;ationen i&#x017F;t zugleich das un-<lb/>
ausgebildet&#x017F;te in &#x017F;einer eignen neuen Anlage, auch wenn er Le-<lb/>
bens&#x017F;att aus der Welt wandert. Die Ur&#x017F;ache i&#x017F;t offenbar<lb/>
die, daß &#x017F;ein Zu&#x017F;tand, der letzte fu&#x0364;r die&#x017F;e Erde, zugleich der<lb/>
er&#x017F;te fu&#x0364;r ein andres Da&#x017F;eyn i&#x017F;t, gegen den er wie ein Kind in<lb/>
den er&#x017F;ten Uebungen hier er&#x017F;cheinet. Er &#x017F;tellet al&#x017F;o zwo Wel-<lb/>
ten auf einmal dar; und das macht die an&#x017F;cheinende Dupli-<lb/>
cita&#x0364;t &#x017F;eines We&#x017F;ens.</p><lb/>
          <p>2. Sofort wird klar, welcher Theil bei den mei&#x017F;ten<lb/>
hienieden der herr&#x017F;chende &#x017F;eyn werde. Der gro&#x0364;ße&#x017F;te Theil<lb/>
des Men&#x017F;chen i&#x017F;t Thier; zur Humanita&#x0364;t hat er blos die Fa&#x0364;-<lb/>
higkeit auf die Welt gebracht und &#x017F;ie muß ihm durch Mu&#x0364;he<lb/>
und Fleiß er&#x017F;t angebildet werden. Wie Wenigen i&#x017F;t es nun<lb/>
auf die rechte Wei&#x017F;e angebildet worden! und auch bei<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310[290]/0312] ewiger Wohnung. Wir kommen und gehen: jeder Augen- blick bringt tauſende her und nimmt tauſende hinweg von der Erde: ſie iſt eine Herberge fuͤr Wandrer, ein Jrrſtern, auf dem Zugvoͤgel ankommen und Zugvoͤgel wegeilen. Das Thier lebt ſich aus und wenn es auch hoͤhern Zwecken zu Folge ſich den Jahren nach nicht auslebet: ſo iſt doch ſein innerer Zweck erreicht; ſeine Geſchicklichkeiten ſind da und es iſt was es ſeyn ſoll. Der Menſch allein iſt im Wider- ſpruch mit ſich und mit der Erde: denn das ausgebildetſte Geſchoͤpf unter allen ihren Organiſationen iſt zugleich das un- ausgebildetſte in ſeiner eignen neuen Anlage, auch wenn er Le- bensſatt aus der Welt wandert. Die Urſache iſt offenbar die, daß ſein Zuſtand, der letzte fuͤr dieſe Erde, zugleich der erſte fuͤr ein andres Daſeyn iſt, gegen den er wie ein Kind in den erſten Uebungen hier erſcheinet. Er ſtellet alſo zwo Wel- ten auf einmal dar; und das macht die anſcheinende Dupli- citaͤt ſeines Weſens. 2. Sofort wird klar, welcher Theil bei den meiſten hienieden der herrſchende ſeyn werde. Der groͤßeſte Theil des Menſchen iſt Thier; zur Humanitaͤt hat er blos die Faͤ- higkeit auf die Welt gebracht und ſie muß ihm durch Muͤhe und Fleiß erſt angebildet werden. Wie Wenigen iſt es nun auf die rechte Weiſe angebildet worden! und auch bei den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/312
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 310[290]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/312>, abgerufen am 23.11.2024.