riell: so müßte sie, diesen Erscheinungen nach, entweder im Gehirn umherrücken und für gewisse Jahre, für Substanti- ven und Namen eigne Protokolle führen; oder sind die Jdeen mit dem Gehirn verhärtet: so müßten sie alle verhärtet seyn und doch ist bei den Alten eben das Andenken der Jugend noch so lebhaft. Zu einer Zeit, da sie, ihrem Organ gemäß, nicht mehr rasch verbinden, oder flüchtig durchdenken kann, hält sie sich desto vester an das erworbne Gut ihrer schönern Jahre, über das sie wie über ihr Eigenthum waltet. Un- mittelbar vor dem Tode und in allen Zuständen, da sie sich vom Körper weniger gefesselt fühlt, erwacht dies Andenken mit aller Lebhaftigkeit der Jugendfreude und die Glückseligkeit der Alten, die Freude der Sterbenden beruhet größtentheils darauf. Vom Anfange des Lebens an scheint unsre Seele nur Ein Werk zu haben, innwendige Gestalt, Form der Humanität zu gewinnen und sich in ihr, wie der Körper in der Seinigen, gesund und froh zu fühlen. Auf dies Werk arbeitet sie so unabläßig und mit solcher Sympathie aller Kräfte, als der Körper nur immerdar für seine Gesundheit arbeiten kann, der, wenn ein Theil leidet, es sogleich ganz fühlt und Säfte anwendet, wie er sie kann, den Bruch zu er- setzen und die Wunde zu heilen. Gleicherweise arbeitet die Seele auf ihre, immer hinfällige und oft falsche Gesundheit: jetzt durch gute, jetzt durch trügliche Mittel sich zu beruhigen
und
riell: ſo muͤßte ſie, dieſen Erſcheinungen nach, entweder im Gehirn umherruͤcken und fuͤr gewiſſe Jahre, fuͤr Subſtanti- ven und Namen eigne Protokolle fuͤhren; oder ſind die Jdeen mit dem Gehirn verhaͤrtet: ſo muͤßten ſie alle verhaͤrtet ſeyn und doch iſt bei den Alten eben das Andenken der Jugend noch ſo lebhaft. Zu einer Zeit, da ſie, ihrem Organ gemaͤß, nicht mehr raſch verbinden, oder fluͤchtig durchdenken kann, haͤlt ſie ſich deſto veſter an das erworbne Gut ihrer ſchoͤnern Jahre, uͤber das ſie wie uͤber ihr Eigenthum waltet. Un- mittelbar vor dem Tode und in allen Zuſtaͤnden, da ſie ſich vom Koͤrper weniger gefeſſelt fuͤhlt, erwacht dies Andenken mit aller Lebhaftigkeit der Jugendfreude und die Gluͤckſeligkeit der Alten, die Freude der Sterbenden beruhet groͤßtentheils darauf. Vom Anfange des Lebens an ſcheint unſre Seele nur Ein Werk zu haben, innwendige Geſtalt, Form der Humanitaͤt zu gewinnen und ſich in ihr, wie der Koͤrper in der Seinigen, geſund und froh zu fuͤhlen. Auf dies Werk arbeitet ſie ſo unablaͤßig und mit ſolcher Sympathie aller Kraͤfte, als der Koͤrper nur immerdar fuͤr ſeine Geſundheit arbeiten kann, der, wenn ein Theil leidet, es ſogleich ganz fuͤhlt und Saͤfte anwendet, wie er ſie kann, den Bruch zu er- ſetzen und die Wunde zu heilen. Gleicherweiſe arbeitet die Seele auf ihre, immer hinfaͤllige und oft falſche Geſundheit: jetzt durch gute, jetzt durch truͤgliche Mittel ſich zu beruhigen
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[296[276]/0298]
riell: ſo muͤßte ſie, dieſen Erſcheinungen nach, entweder im
Gehirn umherruͤcken und fuͤr gewiſſe Jahre, fuͤr Subſtanti-
ven und Namen eigne Protokolle fuͤhren; oder ſind die Jdeen
mit dem Gehirn verhaͤrtet: ſo muͤßten ſie alle verhaͤrtet ſeyn
und doch iſt bei den Alten eben das Andenken der Jugend
noch ſo lebhaft. Zu einer Zeit, da ſie, ihrem Organ gemaͤß,
nicht mehr raſch verbinden, oder fluͤchtig durchdenken kann,
haͤlt ſie ſich deſto veſter an das erworbne Gut ihrer ſchoͤnern
Jahre, uͤber das ſie wie uͤber ihr Eigenthum waltet. Un-
mittelbar vor dem Tode und in allen Zuſtaͤnden, da ſie ſich vom
Koͤrper weniger gefeſſelt fuͤhlt, erwacht dies Andenken mit
aller Lebhaftigkeit der Jugendfreude und die Gluͤckſeligkeit
der Alten, die Freude der Sterbenden beruhet groͤßtentheils
darauf. Vom Anfange des Lebens an ſcheint unſre Seele
nur Ein Werk zu haben, innwendige Geſtalt, Form der
Humanitaͤt zu gewinnen und ſich in ihr, wie der Koͤrper
in der Seinigen, geſund und froh zu fuͤhlen. Auf dies Werk
arbeitet ſie ſo unablaͤßig und mit ſolcher Sympathie aller
Kraͤfte, als der Koͤrper nur immerdar fuͤr ſeine Geſundheit
arbeiten kann, der, wenn ein Theil leidet, es ſogleich ganz
fuͤhlt und Saͤfte anwendet, wie er ſie kann, den Bruch zu er-
ſetzen und die Wunde zu heilen. Gleicherweiſe arbeitet die
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jetzt durch gute, jetzt durch truͤgliche Mittel ſich zu beruhigen
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 296[276]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/298>, abgerufen am 23.11.2024.
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