Man würde mich unrecht verstehen, wenn man mir die Meinung zuschriebe, als ob, wie einige sich ausgedrückt ha- ben, unsre vernünftige Seele sich ihren Körper in Mutter- leibe und zwar durch Venunft gebauet habe. Wir haben gesehen, wie spät die Gabe der Vernunft in uns angebauet werde und daß wir zwar fähig zu ihr auf der Welt erscheinen; sie aber weder eigenmächtig besitzen noch erobern mögen. Und wie wäre ein solches Gebilde auch für die reifste Vernunft des Menschen möglich? da wir dasselbe in keinem Theil we- der von innen noch aussen begreifen und selbst der größeste Theil der Lebensverrichtungen in uns ohne das Bewußtseyn und den Willen der Seele fortgeht. Nicht unsre Vernunft wars, die den Leib bildete, sondern der Finger der Gottheit, organische Kräfte. Sie hatte der Ewige auf dem großen Gange der Natur so weit hinaufgeführt, daß sie jetzt von seiner Hand gebunden, in einer kleinen Welt organischer Ma- terie, die er ausgesondert und zur Bildung des jungen We- sens sogar eigen umhüllt hatte, ihre Schöpfungsstäte fanden. Harmonisch vereinigten sie sich mit ihrem Gebilde, in wel- chem sie auch, so lange es dauert, ihm harmonisch wirken; bis wenn dies abgebraucht ist, der Schöpfer sie von ihrem Dienst abruft und ihnen eine andre Wirkungsstäte bereitet.
Wollen wir also dem Gange der Natur folgen: so ist offenbar:
1.
Man wuͤrde mich unrecht verſtehen, wenn man mir die Meinung zuſchriebe, als ob, wie einige ſich ausgedruͤckt ha- ben, unſre vernuͤnftige Seele ſich ihren Koͤrper in Mutter- leibe und zwar durch Venunft gebauet habe. Wir haben geſehen, wie ſpaͤt die Gabe der Vernunft in uns angebauet werde und daß wir zwar faͤhig zu ihr auf der Welt erſcheinen; ſie aber weder eigenmaͤchtig beſitzen noch erobern moͤgen. Und wie waͤre ein ſolches Gebilde auch fuͤr die reifſte Vernunft des Menſchen moͤglich? da wir daſſelbe in keinem Theil we- der von innen noch auſſen begreifen und ſelbſt der groͤßeſte Theil der Lebensverrichtungen in uns ohne das Bewußtſeyn und den Willen der Seele fortgeht. Nicht unſre Vernunft wars, die den Leib bildete, ſondern der Finger der Gottheit, organiſche Kraͤfte. Sie hatte der Ewige auf dem großen Gange der Natur ſo weit hinaufgefuͤhrt, daß ſie jetzt von ſeiner Hand gebunden, in einer kleinen Welt organiſcher Ma- terie, die er ausgeſondert und zur Bildung des jungen We- ſens ſogar eigen umhuͤllt hatte, ihre Schoͤpfungsſtaͤte fanden. Harmoniſch vereinigten ſie ſich mit ihrem Gebilde, in wel- chem ſie auch, ſo lange es dauert, ihm harmoniſch wirken; bis wenn dies abgebraucht iſt, der Schoͤpfer ſie von ihrem Dienſt abruft und ihnen eine andre Wirkungsſtaͤte bereitet.
Wollen wir alſo dem Gange der Natur folgen: ſo iſt offenbar:
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[276[256]/0278]
Man wuͤrde mich unrecht verſtehen, wenn man mir die
Meinung zuſchriebe, als ob, wie einige ſich ausgedruͤckt ha-
ben, unſre vernuͤnftige Seele ſich ihren Koͤrper in Mutter-
leibe und zwar durch Venunft gebauet habe. Wir haben
geſehen, wie ſpaͤt die Gabe der Vernunft in uns angebauet
werde und daß wir zwar faͤhig zu ihr auf der Welt erſcheinen;
ſie aber weder eigenmaͤchtig beſitzen noch erobern moͤgen. Und
wie waͤre ein ſolches Gebilde auch fuͤr die reifſte Vernunft
des Menſchen moͤglich? da wir daſſelbe in keinem Theil we-
der von innen noch auſſen begreifen und ſelbſt der groͤßeſte
Theil der Lebensverrichtungen in uns ohne das Bewußtſeyn
und den Willen der Seele fortgeht. Nicht unſre Vernunft
wars, die den Leib bildete, ſondern der Finger der Gottheit,
organiſche Kraͤfte. Sie hatte der Ewige auf dem großen
Gange der Natur ſo weit hinaufgefuͤhrt, daß ſie jetzt von
ſeiner Hand gebunden, in einer kleinen Welt organiſcher Ma-
terie, die er ausgeſondert und zur Bildung des jungen We-
ſens ſogar eigen umhuͤllt hatte, ihre Schoͤpfungsſtaͤte fanden.
Harmoniſch vereinigten ſie ſich mit ihrem Gebilde, in wel-
chem ſie auch, ſo lange es dauert, ihm harmoniſch wirken;
bis wenn dies abgebraucht iſt, der Schoͤpfer ſie von ihrem
Dienſt abruft und ihnen eine andre Wirkungsſtaͤte bereitet.
Wollen wir alſo dem Gange der Natur folgen: ſo iſt
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 276[256]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/278>, abgerufen am 27.11.2024.
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