Dauer unsres Geschlechts bestimmte! Alle lebendige Erdge- schöpfe; die sich bald zu vollenden haben, wachsen auch bald; sie werden früh reif und sind schnell am Ziel des Lebens. Der Mensch, wie ein Baum des Himmels aufrecht ge- pflanzt, wächset langsam. Er bleibt gleich dem Elephanten am längsten im Mutterleibe; die Jahre seiner Jugend dau- ren lange, unvergleichbar länger, als irgend eines Thieres. Die glückliche Zeit also zu lernen, zu wachsen, sich seines Le- bens zu freuen und es auf die unschuldigste Weise zu genies- sen, zog die Natur so lang als sie sie ziehen konnte. Man- che Thiere sind in wenigen Jahren, Tagen, ja beinah schon im Augenblick der Geburt ausgebildet: sie sind aber auch desto unvollkommener und sterben desto früher. Der Mensch muß am längsten lernen, weil er am meisten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigen-erlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunst ankommt. Würde nachher auch durch das unnenn- bare Heer der Zufälle und Gefahren sein Leben abgekürzet: so hat er doch seine Sorgenfreie lange Jugend genossen, da mit seinem Körper und Geist auch die Welt um ihn her wuchs, da mit seinem langsam-heraufsteigenden immer-er- weiterten Gesichtskreise auch der Kreis seiner Hoffnungen sich weitete und sein jugendlich-edles Herz in rascher Neugier, in ungeduldiger Schwärmerei für alles Große, Gute und Schö- ne immer heftiger schlagen lernte. Die Blüte des Ge-
schlechts-
Dauer unſres Geſchlechts beſtimmte! Alle lebendige Erdge- ſchoͤpfe; die ſich bald zu vollenden haben, wachſen auch bald; ſie werden fruͤh reif und ſind ſchnell am Ziel des Lebens. Der Menſch, wie ein Baum des Himmels aufrecht ge- pflanzt, waͤchſet langſam. Er bleibt gleich dem Elephanten am laͤngſten im Mutterleibe; die Jahre ſeiner Jugend dau- ren lange, unvergleichbar laͤnger, als irgend eines Thieres. Die gluͤckliche Zeit alſo zu lernen, zu wachſen, ſich ſeines Le- bens zu freuen und es auf die unſchuldigſte Weiſe zu genieſ- ſen, zog die Natur ſo lang als ſie ſie ziehen konnte. Man- che Thiere ſind in wenigen Jahren, Tagen, ja beinah ſchon im Augenblick der Geburt ausgebildet: ſie ſind aber auch deſto unvollkommener und ſterben deſto fruͤher. Der Menſch muß am laͤngſten lernen, weil er am meiſten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigen-erlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunſt ankommt. Wuͤrde nachher auch durch das unnenn- bare Heer der Zufaͤlle und Gefahren ſein Leben abgekuͤrzet: ſo hat er doch ſeine Sorgenfreie lange Jugend genoſſen, da mit ſeinem Koͤrper und Geiſt auch die Welt um ihn her wuchs, da mit ſeinem langſam-heraufſteigenden immer-er- weiterten Geſichtskreiſe auch der Kreis ſeiner Hoffnungen ſich weitete und ſein jugendlich-edles Herz in raſcher Neugier, in ungeduldiger Schwaͤrmerei fuͤr alles Große, Gute und Schoͤ- ne immer heftiger ſchlagen lernte. Die Bluͤte des Ge-
ſchlechts-
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Dauer unſres Geſchlechts beſtimmte! Alle lebendige Erdge-
ſchoͤpfe; die ſich bald zu vollenden haben, wachſen auch bald;
ſie werden fruͤh reif und ſind ſchnell am Ziel des Lebens.
Der Menſch, wie ein Baum des Himmels aufrecht ge-
pflanzt, waͤchſet langſam. Er bleibt gleich dem Elephanten
am laͤngſten im Mutterleibe; die Jahre ſeiner Jugend dau-
ren lange, unvergleichbar laͤnger, als irgend eines Thieres.
Die gluͤckliche Zeit alſo zu lernen, zu wachſen, ſich ſeines Le-
bens zu freuen und es auf die unſchuldigſte Weiſe zu genieſ-
ſen, zog die Natur ſo lang als ſie ſie ziehen konnte. Man-
che Thiere ſind in wenigen Jahren, Tagen, ja beinah ſchon
im Augenblick der Geburt ausgebildet: ſie ſind aber auch
deſto unvollkommener und ſterben deſto fruͤher. Der Menſch
muß am laͤngſten lernen, weil er am meiſten zu lernen hat,
da bei ihm alles auf eigen-erlangte Fertigkeit, Vernunft und
Kunſt ankommt. Wuͤrde nachher auch durch das unnenn-
bare Heer der Zufaͤlle und Gefahren ſein Leben abgekuͤrzet:
ſo hat er doch ſeine Sorgenfreie lange Jugend genoſſen, da
mit ſeinem Koͤrper und Geiſt auch die Welt um ihn her
wuchs, da mit ſeinem langſam-heraufſteigenden immer-er-
weiterten Geſichtskreiſe auch der Kreis ſeiner Hoffnungen ſich
weitete und ſein jugendlich-edles Herz in raſcher Neugier, in
ungeduldiger Schwaͤrmerei fuͤr alles Große, Gute und Schoͤ-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 242[222]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/244>, abgerufen am 24.11.2024.
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