er, da er schon alles kann, ehe ers lernte, nichts menschliches lernen. Entweder mußte ihm also die Vernunft, als Jn- stinkt angebohren werden, welches sogleich als Widerspruch erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt ist, schwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.
Von Kindheit auf lernet er diese und wird wie zum künstlichen Gange, so auch zu ihr, zur Freiheit und menschli- chen Sprache durch Kunst gebildet. Der Säugling wird an die Brust der Mutter über ihrem Herzen gelegt: die Frucht ihres Leibes wird der Zögling ihrer Arme. Seine feinsten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerst und werden durch Gestalten und Töne geleitet; wohl ihm, wenn sie glücklich geleitet werden. Allmälich entfaltet sich sein Gesicht und hangt am Auge der Menschen um ihn her, wie sein Ohr an der Sprache der Menschen hangt und durch ihre Hülfe die ersten Begriffe unterscheiden lernet. Und so lernt seine Hand allmälich greifen; nun erst streben seine Glieder nach eigner Uebung. Er war zuerst ein Lehrling der zwei feinsten Sinne: denn der künstliche Jnstinkt, der ihm an- gebildet werden soll, ist Vernunft, Humanität, menschli- che Lebensweise, die kein Thier hat und lernet. Auch die gezähmten Thiere nehmen nur thierisch einiges von Men- schen an, aber sie werden nicht Menschen.
Hieraus
er, da er ſchon alles kann, ehe ers lernte, nichts menſchliches lernen. Entweder mußte ihm alſo die Vernunft, als Jn- ſtinkt angebohren werden, welches ſogleich als Widerſpruch erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt iſt, ſchwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.
Von Kindheit auf lernet er dieſe und wird wie zum kuͤnſtlichen Gange, ſo auch zu ihr, zur Freiheit und menſchli- chen Sprache durch Kunſt gebildet. Der Saͤugling wird an die Bruſt der Mutter uͤber ihrem Herzen gelegt: die Frucht ihres Leibes wird der Zoͤgling ihrer Arme. Seine feinſten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerſt und werden durch Geſtalten und Toͤne geleitet; wohl ihm, wenn ſie gluͤcklich geleitet werden. Allmaͤlich entfaltet ſich ſein Geſicht und hangt am Auge der Menſchen um ihn her, wie ſein Ohr an der Sprache der Menſchen hangt und durch ihre Huͤlfe die erſten Begriffe unterſcheiden lernet. Und ſo lernt ſeine Hand allmaͤlich greifen; nun erſt ſtreben ſeine Glieder nach eigner Uebung. Er war zuerſt ein Lehrling der zwei feinſten Sinne: denn der kuͤnſtliche Jnſtinkt, der ihm an- gebildet werden ſoll, iſt Vernunft, Humanitaͤt, menſchli- che Lebensweiſe, die kein Thier hat und lernet. Auch die gezaͤhmten Thiere nehmen nur thieriſch einiges von Men- ſchen an, aber ſie werden nicht Menſchen.
Hieraus
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[228[208]/0230]
er, da er ſchon alles kann, ehe ers lernte, nichts menſchliches
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ſtinkt angebohren werden, welches ſogleich als Widerſpruch
erhellen wird, oder er mußte, wie es jetzt iſt, ſchwach auf
die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.
Von Kindheit auf lernet er dieſe und wird wie zum
kuͤnſtlichen Gange, ſo auch zu ihr, zur Freiheit und menſchli-
chen Sprache durch Kunſt gebildet. Der Saͤugling wird
an die Bruſt der Mutter uͤber ihrem Herzen gelegt: die
Frucht ihres Leibes wird der Zoͤgling ihrer Arme. Seine
feinſten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerſt und werden
durch Geſtalten und Toͤne geleitet; wohl ihm, wenn ſie
gluͤcklich geleitet werden. Allmaͤlich entfaltet ſich ſein Geſicht
und hangt am Auge der Menſchen um ihn her, wie ſein
Ohr an der Sprache der Menſchen hangt und durch ihre
Huͤlfe die erſten Begriffe unterſcheiden lernet. Und ſo lernt
ſeine Hand allmaͤlich greifen; nun erſt ſtreben ſeine Glieder
nach eigner Uebung. Er war zuerſt ein Lehrling der zwei
feinſten Sinne: denn der kuͤnſtliche Jnſtinkt, der ihm an-
gebildet werden ſoll, iſt Vernunft, Humanitaͤt, menſchli-
che Lebensweiſe, die kein Thier hat und lernet. Auch
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 228[208]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/230>, abgerufen am 22.11.2024.
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