Luft und Saugen ist seine ungelernte erste Verrichtung. Das ganze Werk der Verdauung und Nahrung, des Hungers und Durstes geht Jnstinctmäßig oder durch noch dunklere Triebe seinen Gang fort. Die Muskeln- und Zeugungs- kräfte streben eben also zur Entwicklung und ein Mensch darf nur durch Affekt oder Krankheit wahnsinnig seyn, so siehet man bei ihm alle thierische Triebe. Noth und Gefahr ent- wickeln bei Menschen, ja bei ganzen Nationen, die anima- lisch leben, auch thierische Geschicklichkeiten, Sinnen und Kräfte.
Also sind dem Menschen die Triebe nicht sowohl geraubt als bei ihm unterdrückt und unter die Herrschaft der Ner- ven und der feinern Sinne geordnet. Ohne sie könnte auch das Geschöpf, das noch großentheils Thier ist, gar nicht leben.
Und wie werden sie unterdrückt? wie bringt die Natur sie unter die Herrschaft der Nerven? Lasset uns ihren Gang von Kindheit auf betrachten; er zeiget uns das, was man oft so thöricht, als menschliche Schwachheit bejammert hat, von einer ganz andern Seite.
Das menschliche Kind kommt schwächer auf die Welt, als keins der Thiere: offenbar weil es zu einer Proportion
gebil-
Luft und Saugen iſt ſeine ungelernte erſte Verrichtung. Das ganze Werk der Verdauung und Nahrung, des Hungers und Durſtes geht Jnſtinctmaͤßig oder durch noch dunklere Triebe ſeinen Gang fort. Die Muskeln- und Zeugungs- kraͤfte ſtreben eben alſo zur Entwicklung und ein Menſch darf nur durch Affekt oder Krankheit wahnſinnig ſeyn, ſo ſiehet man bei ihm alle thieriſche Triebe. Noth und Gefahr ent- wickeln bei Menſchen, ja bei ganzen Nationen, die anima- liſch leben, auch thieriſche Geſchicklichkeiten, Sinnen und Kraͤfte.
Alſo ſind dem Menſchen die Triebe nicht ſowohl geraubt als bei ihm unterdruͤckt und unter die Herrſchaft der Ner- ven und der feinern Sinne geordnet. Ohne ſie koͤnnte auch das Geſchoͤpf, das noch großentheils Thier iſt, gar nicht leben.
Und wie werden ſie unterdruͤckt? wie bringt die Natur ſie unter die Herrſchaft der Nerven? Laſſet uns ihren Gang von Kindheit auf betrachten; er zeiget uns das, was man oft ſo thoͤricht, als menſchliche Schwachheit bejammert hat, von einer ganz andern Seite.
Das menſchliche Kind kommt ſchwaͤcher auf die Welt, als keins der Thiere: offenbar weil es zu einer Proportion
gebil-
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[226[206]/0228]
Luft und Saugen iſt ſeine ungelernte erſte Verrichtung. Das
ganze Werk der Verdauung und Nahrung, des Hungers
und Durſtes geht Jnſtinctmaͤßig oder durch noch dunklere
Triebe ſeinen Gang fort. Die Muskeln- und Zeugungs-
kraͤfte ſtreben eben alſo zur Entwicklung und ein Menſch darf
nur durch Affekt oder Krankheit wahnſinnig ſeyn, ſo ſiehet
man bei ihm alle thieriſche Triebe. Noth und Gefahr ent-
wickeln bei Menſchen, ja bei ganzen Nationen, die anima-
liſch leben, auch thieriſche Geſchicklichkeiten, Sinnen und
Kraͤfte.
Alſo ſind dem Menſchen die Triebe nicht ſowohl geraubt
als bei ihm unterdruͤckt und unter die Herrſchaft der Ner-
ven und der feinern Sinne geordnet. Ohne ſie koͤnnte auch
das Geſchoͤpf, das noch großentheils Thier iſt, gar nicht leben.
Und wie werden ſie unterdruͤckt? wie bringt die Natur
ſie unter die Herrſchaft der Nerven? Laſſet uns ihren Gang
von Kindheit auf betrachten; er zeiget uns das, was man
oft ſo thoͤricht, als menſchliche Schwachheit bejammert hat,
von einer ganz andern Seite.
Das menſchliche Kind kommt ſchwaͤcher auf die Welt,
als keins der Thiere: offenbar weil es zu einer Proportion
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 226[206]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/228>, abgerufen am 22.11.2024.
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