heit noch animalische Kräfte ausarbeiten und sich mit Sin- nen und Trieben üben lernen, ehe es zu unsrer, der freiesten und vollkommensten Stellung gelangen konnte. Allmälich nahet es sich derselben: der kriechende Wurm erhebt, so viel er kann, vom Staube sein Haupt und das Seethier schlei- chet gebückt ans Ufer. Mit hohem Halse stehet der stolze Hirsch, daß edle Roß da und dem gezähmten Thier werden schon seine Triebe gedämpft: seine Seele wird mit Vorideen genährt, die es zwar noch nicht fassen kann, die es aber auf Glauben annimmt und sich gleichsam blind zu ihnen gewöh- net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem unsicht- baren organischen Reich; und der thierisch-hinabgezwun- gene Körper richtet sich auf: der Baum seines Rückens sproßt gerader und efflorescirt feiner: die Brust hat sich gewölbet, die Hüften geschloßen, der Hals erhoben, die Sinne sind schöner geordnet und stralen zusammen ins hellere Bewußt- seyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles, wodurch anders? als vielleicht, wenn die organischen Kräfte sattsam geübt sind, durch Ein Machtwort der Schöpfung: Geschöpf, steh auf von der Erde!
III.
B b 2
heit noch animaliſche Kraͤfte ausarbeiten und ſich mit Sin- nen und Trieben uͤben lernen, ehe es zu unſrer, der freieſten und vollkommenſten Stellung gelangen konnte. Allmaͤlich nahet es ſich derſelben: der kriechende Wurm erhebt, ſo viel er kann, vom Staube ſein Haupt und das Seethier ſchlei- chet gebuͤckt ans Ufer. Mit hohem Halſe ſtehet der ſtolze Hirſch, daß edle Roß da und dem gezaͤhmten Thier werden ſchon ſeine Triebe gedaͤmpft: ſeine Seele wird mit Vorideen genaͤhrt, die es zwar noch nicht faſſen kann, die es aber auf Glauben annimmt und ſich gleichſam blind zu ihnen gewoͤh- net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem unſicht- baren organiſchen Reich; und der thieriſch-hinabgezwun- gene Koͤrper richtet ſich auf: der Baum ſeines Ruͤckens ſproßt gerader und effloreſcirt feiner: die Bruſt hat ſich gewoͤlbet, die Huͤften geſchloßen, der Hals erhoben, die Sinne ſind ſchoͤner geordnet und ſtralen zuſammen ins hellere Bewußt- ſeyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles, wodurch anders? als vielleicht, wenn die organiſchen Kraͤfte ſattſam geuͤbt ſind, durch Ein Machtwort der Schoͤpfung: Geſchoͤpf, ſteh auf von der Erde!
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[215[195]/0217]
heit noch animaliſche Kraͤfte ausarbeiten und ſich mit Sin-
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und vollkommenſten Stellung gelangen konnte. Allmaͤlich
nahet es ſich derſelben: der kriechende Wurm erhebt, ſo viel
er kann, vom Staube ſein Haupt und das Seethier ſchlei-
chet gebuͤckt ans Ufer. Mit hohem Halſe ſtehet der ſtolze
Hirſch, daß edle Roß da und dem gezaͤhmten Thier werden
ſchon ſeine Triebe gedaͤmpft: ſeine Seele wird mit Vorideen
genaͤhrt, die es zwar noch nicht faſſen kann, die es aber auf
Glauben annimmt und ſich gleichſam blind zu ihnen gewoͤh-
net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem unſicht-
baren organiſchen Reich; und der thieriſch-hinabgezwun-
gene Koͤrper richtet ſich auf: der Baum ſeines Ruͤckens ſproßt
gerader und effloreſcirt feiner: die Bruſt hat ſich gewoͤlbet,
die Huͤften geſchloßen, der Hals erhoben, die Sinne ſind
ſchoͤner geordnet und ſtralen zuſammen ins hellere Bewußt-
ſeyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles,
wodurch anders? als vielleicht, wenn die organiſchen Kraͤfte
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Geſchoͤpf, ſteh auf von der Erde!
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 215[195]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/217>, abgerufen am 25.11.2024.
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