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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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der alles-zerstörenden Verwesung zu betrachten; und den-
noch dringen Geschichte und Erfahrung ihm nicht dieses
Bild auf? Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt?
was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geord-
net, wie die Räume geordnet sind? und beide sind ja die
Zwillinge Eines Schicksals. Jene sind voll Weisheit;
diese voll scheinbarer Unordnung; und doch ist offenbar der
Mensch dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er ei-
nen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die
Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung
und Gedächtniß. Und macht nun nicht eben dies Bauen
der Zeiten auf einander das Ganze unsres Geschlechts zum
unförmlichen Riesengebäude, wo Einer abträgt, was der an-
dre anlegte, wo stehen bleibt, was nie hätte gebauet wer-
den sollen und in Jahrhunderten endlich alles Ein Schutt
wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen
desto zuversichtlicher wohnen? -- -- Jch will die Reihe
solcher Zweifel nicht fortsetzen und die Widersprüche des
Menschen mit sich selbst, unter einander und gegen die ganze
andre Schöpfung nicht verfolgen. Gnug, ich suchte nach ei-
ner Philosophie der Geschichte der Mensch-
heit
, wo ich suchen konnte.


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der alles-zerſtoͤrenden Verweſung zu betrachten; und den-
noch dringen Geſchichte und Erfahrung ihm nicht dieſes
Bild auf? Was iſt denn Ganzes auf der Erde vollfuͤhrt?
was iſt auf ihr Ganzes? Sind alſo die Zeiten nicht geord-
net, wie die Raͤume geordnet ſind? und beide ſind ja die
Zwillinge Eines Schickſals. Jene ſind voll Weisheit;
dieſe voll ſcheinbarer Unordnung; und doch iſt offenbar der
Menſch dazu geſchaffen, daß er Ordnung ſuchen, daß er ei-
nen Fleck der Zeiten uͤberſehen, daß die Nachwelt auf die
Vergangenheit bauen ſoll: denn dazu hat er Erinnerung
und Gedaͤchtniß. Und macht nun nicht eben dies Bauen
der Zeiten auf einander das Ganze unſres Geſchlechts zum
unfoͤrmlichen Rieſengebaͤude, wo Einer abtraͤgt, was der an-
dre anlegte, wo ſtehen bleibt, was nie haͤtte gebauet wer-
den ſollen und in Jahrhunderten endlich alles Ein Schutt
wird, unter dem, je bruͤchiger er iſt, die zaghaften Menſchen
deſto zuverſichtlicher wohnen? — — Jch will die Reihe
ſolcher Zweifel nicht fortſetzen und die Widerſpruͤche des
Menſchen mit ſich ſelbſt, unter einander und gegen die ganze
andre Schoͤpfung nicht verfolgen. Gnug, ich ſuchte nach ei-
ner Philoſophie der Geſchichte der Menſch-
heit
, wo ich ſuchen konnte.


Ob
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[0017] der alles-zerſtoͤrenden Verweſung zu betrachten; und den- noch dringen Geſchichte und Erfahrung ihm nicht dieſes Bild auf? Was iſt denn Ganzes auf der Erde vollfuͤhrt? was iſt auf ihr Ganzes? Sind alſo die Zeiten nicht geord- net, wie die Raͤume geordnet ſind? und beide ſind ja die Zwillinge Eines Schickſals. Jene ſind voll Weisheit; dieſe voll ſcheinbarer Unordnung; und doch iſt offenbar der Menſch dazu geſchaffen, daß er Ordnung ſuchen, daß er ei- nen Fleck der Zeiten uͤberſehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen ſoll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedaͤchtniß. Und macht nun nicht eben dies Bauen der Zeiten auf einander das Ganze unſres Geſchlechts zum unfoͤrmlichen Rieſengebaͤude, wo Einer abtraͤgt, was der an- dre anlegte, wo ſtehen bleibt, was nie haͤtte gebauet wer- den ſollen und in Jahrhunderten endlich alles Ein Schutt wird, unter dem, je bruͤchiger er iſt, die zaghaften Menſchen deſto zuverſichtlicher wohnen? — — Jch will die Reihe ſolcher Zweifel nicht fortſetzen und die Widerſpruͤche des Menſchen mit ſich ſelbſt, unter einander und gegen die ganze andre Schoͤpfung nicht verfolgen. Gnug, ich ſuchte nach ei- ner Philoſophie der Geſchichte der Menſch- heit, wo ich ſuchen konnte. Ob * * 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/17>, abgerufen am 23.11.2024.