gebildet und die Galle scheint ihm noch gar zu fehlen. Sein Blut ist so kalt, daß es an die Amphibien grenzet; daher sein ausgerissenes Herz und sein Eingeweide noch lange schlägt und das Thier, auch ohne Herz, die Beine zuckt, als ob es in einem Schlummer läge. Auch hier bemerken wir also die Compensation der Natur, daß wo sie empfind- same Nerven, selbst rege Muskelkräfte versagen mußte, sie de- sto inniger den zähen Reiz ausbreitete und mittheilte. Dies vornehme Thier also mag unglücklicher scheinen als es ist. Es liebt die Wärme, es liebt die schlaffe Ruhe und befindet sich in beiden Schlammartig wohl. Wenn es nicht Wär- me hat, schläft es; ja als ob ihm auch das Liegen schmerzte, hängt es sich mit der Kralle an den Baum, frißt mit der an- dern Kralle und genießt wie ein hangender Sack im war- men Sonnenschein sein Raupenartiges Leben. Die Un- förmlichkeit seiner Füße ist auch Wohlthat. Das weiche Thier darf sich vermittelst ihres sonderbaren Baues nicht einmal auf die Ballen sondern nur auf die Converität der Klaue wie auf Räder des Wagens stützen und schiebet sich also langsam und gemächlich weiter. Seine sechs und vier- zig Ribben, dergleichen kein andres vierfüßiges Thier hat, sind ein langes Gewölbe seines Speisemagazins und wenn ich so sagen darf, die zu Wirbeln verhärteten Ringe eines fressenden Blättersacks, einer Raupe.
Gnug
R 3
gebildet und die Galle ſcheint ihm noch gar zu fehlen. Sein Blut iſt ſo kalt, daß es an die Amphibien grenzet; daher ſein ausgeriſſenes Herz und ſein Eingeweide noch lange ſchlaͤgt und das Thier, auch ohne Herz, die Beine zuckt, als ob es in einem Schlummer laͤge. Auch hier bemerken wir alſo die Compenſation der Natur, daß wo ſie empfind- ſame Nerven, ſelbſt rege Muskelkraͤfte verſagen mußte, ſie de- ſto inniger den zaͤhen Reiz ausbreitete und mittheilte. Dies vornehme Thier alſo mag ungluͤcklicher ſcheinen als es iſt. Es liebt die Waͤrme, es liebt die ſchlaffe Ruhe und befindet ſich in beiden Schlammartig wohl. Wenn es nicht Waͤr- me hat, ſchlaͤft es; ja als ob ihm auch das Liegen ſchmerzte, haͤngt es ſich mit der Kralle an den Baum, frißt mit der an- dern Kralle und genießt wie ein hangender Sack im war- men Sonnenſchein ſein Raupenartiges Leben. Die Un- foͤrmlichkeit ſeiner Fuͤße iſt auch Wohlthat. Das weiche Thier darf ſich vermittelſt ihres ſonderbaren Baues nicht einmal auf die Ballen ſondern nur auf die Converitaͤt der Klaue wie auf Raͤder des Wagens ſtuͤtzen und ſchiebet ſich alſo langſam und gemaͤchlich weiter. Seine ſechs und vier- zig Ribben, dergleichen kein andres vierfuͤßiges Thier hat, ſind ein langes Gewoͤlbe ſeines Speiſemagazins und wenn ich ſo ſagen darf, die zu Wirbeln verhaͤrteten Ringe eines freſſenden Blaͤtterſacks, einer Raupe.
Gnug
R 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0155"n="133"/>
gebildet und die Galle ſcheint ihm noch gar zu fehlen. Sein<lb/>
Blut iſt ſo kalt, daß es an die Amphibien grenzet; daher<lb/>ſein ausgeriſſenes Herz und ſein Eingeweide noch lange<lb/>ſchlaͤgt und das Thier, auch ohne Herz, die Beine zuckt,<lb/>
als ob es in einem Schlummer laͤge. Auch hier bemerken<lb/>
wir alſo die Compenſation der Natur, daß wo ſie empfind-<lb/>ſame Nerven, ſelbſt rege Muskelkraͤfte verſagen mußte, ſie de-<lb/>ſto inniger den zaͤhen Reiz ausbreitete und mittheilte. Dies<lb/>
vornehme Thier alſo mag ungluͤcklicher ſcheinen als es iſt.<lb/>
Es liebt die Waͤrme, es liebt die ſchlaffe Ruhe und befindet<lb/>ſich in beiden Schlammartig wohl. Wenn es nicht Waͤr-<lb/>
me hat, ſchlaͤft es; ja als ob ihm auch das Liegen ſchmerzte,<lb/>
haͤngt es ſich mit der Kralle an den Baum, frißt mit der an-<lb/>
dern Kralle und genießt wie ein hangender Sack im war-<lb/>
men Sonnenſchein ſein Raupenartiges Leben. Die Un-<lb/>
foͤrmlichkeit ſeiner Fuͤße iſt auch Wohlthat. Das weiche<lb/>
Thier darf ſich vermittelſt ihres ſonderbaren Baues nicht<lb/>
einmal auf die Ballen ſondern nur auf die Converitaͤt der<lb/>
Klaue wie auf Raͤder des Wagens ſtuͤtzen und ſchiebet ſich<lb/>
alſo langſam und gemaͤchlich weiter. Seine ſechs und vier-<lb/>
zig Ribben, dergleichen kein andres vierfuͤßiges Thier hat,<lb/>ſind ein langes Gewoͤlbe ſeines Speiſemagazins und wenn<lb/>
ich ſo ſagen darf, die zu Wirbeln verhaͤrteten Ringe eines<lb/>
freſſenden Blaͤtterſacks, einer Raupe.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">R 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Gnug</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[133/0155]
gebildet und die Galle ſcheint ihm noch gar zu fehlen. Sein
Blut iſt ſo kalt, daß es an die Amphibien grenzet; daher
ſein ausgeriſſenes Herz und ſein Eingeweide noch lange
ſchlaͤgt und das Thier, auch ohne Herz, die Beine zuckt,
als ob es in einem Schlummer laͤge. Auch hier bemerken
wir alſo die Compenſation der Natur, daß wo ſie empfind-
ſame Nerven, ſelbſt rege Muskelkraͤfte verſagen mußte, ſie de-
ſto inniger den zaͤhen Reiz ausbreitete und mittheilte. Dies
vornehme Thier alſo mag ungluͤcklicher ſcheinen als es iſt.
Es liebt die Waͤrme, es liebt die ſchlaffe Ruhe und befindet
ſich in beiden Schlammartig wohl. Wenn es nicht Waͤr-
me hat, ſchlaͤft es; ja als ob ihm auch das Liegen ſchmerzte,
haͤngt es ſich mit der Kralle an den Baum, frißt mit der an-
dern Kralle und genießt wie ein hangender Sack im war-
men Sonnenſchein ſein Raupenartiges Leben. Die Un-
foͤrmlichkeit ſeiner Fuͤße iſt auch Wohlthat. Das weiche
Thier darf ſich vermittelſt ihres ſonderbaren Baues nicht
einmal auf die Ballen ſondern nur auf die Converitaͤt der
Klaue wie auf Raͤder des Wagens ſtuͤtzen und ſchiebet ſich
alſo langſam und gemaͤchlich weiter. Seine ſechs und vier-
zig Ribben, dergleichen kein andres vierfuͤßiges Thier hat,
ſind ein langes Gewoͤlbe ſeines Speiſemagazins und wenn
ich ſo ſagen darf, die zu Wirbeln verhaͤrteten Ringe eines
freſſenden Blaͤtterſacks, einer Raupe.
Gnug
R 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/155>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.