Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

chen, sondern eigentlich aus Einem ein Vieles,
ein schönes Labyrinth von Scenen, wo seine
gröste Sorge blieb, an der verwickeltsten
Stelle des Labyrinths seine Zuschauer mit
dem Wahn des vorigen Einen umzutauschen,
den Knäuel ihrer Empfindungen so sanft und
allmählig los zu winden, als ob sie ihn noch
immer ganz hätten, die vorige Dithyram-
bische Empfindung. Dazu zierte er ihnen
die Scene aus, behielt ja die Chöre bey, und
machte sie zu Ruheplätzen der Handlung, er-
hielt Alle mit jedem Wort im Anblick des
Ganzen, in Erwartung, in Wahn des
Werdens, des Schonhabens, (was der
lehrreiche Euripides nachher sogleich, da
die Bühne kaum gebildet war, wieder verab-
säumte!) Kurz, er gab der Handlung (eine
Sache, die man so erschrecklich mißverstehet)
Grösse.

Und daß Aristoteles diese Kunst seines
Genies in ihm zu schätzen wuste, und eben in
Allem, fast das Umgekehrte war, was die
neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt ha-
ben, müste Jedem einleuchten, der ihm ohne
Wahn und im Standpunkte seiner Zeit ge-
lesen. Eben daß er Thespis und Aeschylus
verließ, und sich ganz an den vielfach dich-
tenden Sophokles hält, daß er eben von
diese seiner Neuerung ausging, in sie das

Wesen

chen, ſondern eigentlich aus Einem ein Vieles,
ein ſchoͤnes Labyrinth von Scenen, wo ſeine
groͤſte Sorge blieb, an der verwickeltſten
Stelle des Labyrinths ſeine Zuſchauer mit
dem Wahn des vorigen Einen umzutauſchen,
den Knaͤuel ihrer Empfindungen ſo ſanft und
allmaͤhlig los zu winden, als ob ſie ihn noch
immer ganz haͤtten, die vorige Dithyram-
biſche Empfindung. Dazu zierte er ihnen
die Scene aus, behielt ja die Choͤre bey, und
machte ſie zu Ruheplaͤtzen der Handlung, er-
hielt Alle mit jedem Wort im Anblick des
Ganzen, in Erwartung, in Wahn des
Werdens, des Schonhabens, (was der
lehrreiche Euripides nachher ſogleich, da
die Buͤhne kaum gebildet war, wieder verab-
ſaͤumte!) Kurz, er gab der Handlung (eine
Sache, die man ſo erſchrecklich mißverſtehet)
Groͤſſe.

Und daß Ariſtoteles dieſe Kunſt ſeines
Genies in ihm zu ſchaͤtzen wuſte, und eben in
Allem, faſt das Umgekehrte war, was die
neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt ha-
ben, muͤſte Jedem einleuchten, der ihm ohne
Wahn und im Standpunkte ſeiner Zeit ge-
leſen. Eben daß er Theſpis und Aeſchylus
verließ, und ſich ganz an den vielfach dich-
tenden Sophokles haͤlt, daß er eben von
dieſe ſeiner Neuerung ausging, in ſie das

Weſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="80"/>
chen, &#x017F;ondern eigentlich aus Einem ein Vieles,<lb/>
ein &#x017F;cho&#x0364;nes Labyrinth von Scenen, wo &#x017F;eine<lb/>
gro&#x0364;&#x017F;te Sorge blieb, an der verwickelt&#x017F;ten<lb/>
Stelle des Labyrinths &#x017F;eine Zu&#x017F;chauer mit<lb/>
dem Wahn des vorigen Einen umzutau&#x017F;chen,<lb/>
den Kna&#x0364;uel ihrer Empfindungen &#x017F;o &#x017F;anft und<lb/>
allma&#x0364;hlig los zu winden, als ob &#x017F;ie ihn noch<lb/>
immer ganz ha&#x0364;tten, die vorige Dithyram-<lb/>
bi&#x017F;che Empfindung. Dazu zierte er ihnen<lb/>
die Scene aus, behielt ja die Cho&#x0364;re bey, und<lb/>
machte &#x017F;ie zu Ruhepla&#x0364;tzen der Handlung, er-<lb/>
hielt Alle mit jedem Wort im Anblick des<lb/>
Ganzen, in Erwartung, in Wahn des<lb/>
Werdens, des <hi rendition="#fr">Schonhabens,</hi> (was der<lb/>
lehrreiche <hi rendition="#fr">Euripides</hi> nachher &#x017F;ogleich, da<lb/>
die Bu&#x0364;hne kaum gebildet war, wieder verab-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;umte!) Kurz, er gab der Handlung (eine<lb/>
Sache, die man &#x017F;o er&#x017F;chrecklich mißver&#x017F;tehet)<lb/><hi rendition="#fr">Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</hi></p><lb/>
          <p>Und daß <hi rendition="#fr">Ari&#x017F;toteles</hi> die&#x017F;e Kun&#x017F;t &#x017F;eines<lb/>
Genies in ihm zu &#x017F;cha&#x0364;tzen wu&#x017F;te, und eben in<lb/>
Allem, fa&#x017F;t das Umgekehrte war, was die<lb/>
neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt ha-<lb/>
ben, mu&#x0364;&#x017F;te Jedem einleuchten, der ihm ohne<lb/>
Wahn und im Standpunkte &#x017F;einer Zeit ge-<lb/>
le&#x017F;en. Eben daß er <hi rendition="#fr">The&#x017F;pis</hi> und <hi rendition="#fr">Ae&#x017F;chylus</hi><lb/>
verließ, und &#x017F;ich ganz an den <hi rendition="#fr">vielfach</hi> dich-<lb/>
tenden <hi rendition="#fr">Sophokles</hi> ha&#x0364;lt, daß er eben von<lb/>
die&#x017F;e <hi rendition="#fr">&#x017F;einer Neuerung</hi> ausging, in &#x017F;ie das<lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">We&#x017F;en</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0084] chen, ſondern eigentlich aus Einem ein Vieles, ein ſchoͤnes Labyrinth von Scenen, wo ſeine groͤſte Sorge blieb, an der verwickeltſten Stelle des Labyrinths ſeine Zuſchauer mit dem Wahn des vorigen Einen umzutauſchen, den Knaͤuel ihrer Empfindungen ſo ſanft und allmaͤhlig los zu winden, als ob ſie ihn noch immer ganz haͤtten, die vorige Dithyram- biſche Empfindung. Dazu zierte er ihnen die Scene aus, behielt ja die Choͤre bey, und machte ſie zu Ruheplaͤtzen der Handlung, er- hielt Alle mit jedem Wort im Anblick des Ganzen, in Erwartung, in Wahn des Werdens, des Schonhabens, (was der lehrreiche Euripides nachher ſogleich, da die Buͤhne kaum gebildet war, wieder verab- ſaͤumte!) Kurz, er gab der Handlung (eine Sache, die man ſo erſchrecklich mißverſtehet) Groͤſſe. Und daß Ariſtoteles dieſe Kunſt ſeines Genies in ihm zu ſchaͤtzen wuſte, und eben in Allem, faſt das Umgekehrte war, was die neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt ha- ben, muͤſte Jedem einleuchten, der ihm ohne Wahn und im Standpunkte ſeiner Zeit ge- leſen. Eben daß er Theſpis und Aeſchylus verließ, und ſich ganz an den vielfach dich- tenden Sophokles haͤlt, daß er eben von dieſe ſeiner Neuerung ausging, in ſie das Weſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/84
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/84>, abgerufen am 08.05.2024.