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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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Kommt Liebe! Sie wird singen
Und finden den Weg!

Sprecht, Amor sey nimmer
Zu fürchten das Kind!
Lacht über ihn immer
Als Flüchtling, als blind!
Und schließt ihn durch Riegel
Vom Tagstrahl hinweg
Durch Schlösser und Riegel
Find Liebe den Weg!
Wenn Phönix und Adler
Sich unter euch beugt!
Wenn Drache und Tyger
Gefällig sich neigt!
Die Löwin läßt kriegen
Den Raub sich hinweg.
Aber Liebe wird siegen
Und finden sich Weg!

Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stär-
ker ausgeführt werden? Und mit welchem
Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Las-
sen Sie den dummsten Menschen das Lied drey-
mal hören: er wirds können, und mit Freude
und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber
eben dieselbe Sache auf einförmige, dogmati-
sche Art, in hübsch abgezählten Strophen, und
seine Seele schläft.

Alle unsre alte Kirchenlieder sind voll dieser
Würfe und Jnversionen: keine aber fast mehr
und mächtiger, als die von unserm Luther.
Welche Klopstocksche Wendung in seinen

Liedern

Kommt Liebe! Sie wird ſingen
Und finden den Weg!

Sprecht, Amor ſey nimmer
Zu fuͤrchten das Kind!
Lacht uͤber ihn immer
Als Fluͤchtling, als blind!
Und ſchließt ihn durch Riegel
Vom Tagſtrahl hinweg
Durch Schloͤſſer und Riegel
Find Liebe den Weg!
Wenn Phoͤnix und Adler
Sich unter euch beugt!
Wenn Drache und Tyger
Gefaͤllig ſich neigt!
Die Loͤwin laͤßt kriegen
Den Raub ſich hinweg.
Aber Liebe wird ſiegen
Und finden ſich Weg!

Konnte der Gedanke ſinnlicher, maͤchtiger, ſtaͤr-
ker ausgefuͤhrt werden? Und mit welchem
Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Laſ-
ſen Sie den dummſten Menſchen das Lied drey-
mal hoͤren: er wirds koͤnnen, und mit Freude
und Entzuͤckung ſingen; ſagen Sie ihm aber
eben dieſelbe Sache auf einfoͤrmige, dogmati-
ſche Art, in huͤbſch abgezaͤhlten Strophen, und
ſeine Seele ſchlaͤft.

Alle unſre alte Kirchenlieder ſind voll dieſer
Wuͤrfe und Jnverſionen: keine aber faſt mehr
und maͤchtiger, als die von unſerm Luther.
Welche Klopſtockſche Wendung in ſeinen

Liedern
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[64/0068] Kommt Liebe! Sie wird ſingen Und finden den Weg! Sprecht, Amor ſey nimmer Zu fuͤrchten das Kind! Lacht uͤber ihn immer Als Fluͤchtling, als blind! Und ſchließt ihn durch Riegel Vom Tagſtrahl hinweg Durch Schloͤſſer und Riegel Find Liebe den Weg! Wenn Phoͤnix und Adler Sich unter euch beugt! Wenn Drache und Tyger Gefaͤllig ſich neigt! Die Loͤwin laͤßt kriegen Den Raub ſich hinweg. Aber Liebe wird ſiegen Und finden ſich Weg! Konnte der Gedanke ſinnlicher, maͤchtiger, ſtaͤr- ker ausgefuͤhrt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Laſ- ſen Sie den dummſten Menſchen das Lied drey- mal hoͤren: er wirds koͤnnen, und mit Freude und Entzuͤckung ſingen; ſagen Sie ihm aber eben dieſelbe Sache auf einfoͤrmige, dogmati- ſche Art, in huͤbſch abgezaͤhlten Strophen, und ſeine Seele ſchlaͤft. Alle unſre alte Kirchenlieder ſind voll dieſer Wuͤrfe und Jnverſionen: keine aber faſt mehr und maͤchtiger, als die von unſerm Luther. Welche Klopſtockſche Wendung in ſeinen Liedern

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/68>, abgerufen am 24.11.2024.