Daß wir doch schon, m. Fr. eine Komposi- tion "über den Allgegenwärtigen! die Früh- "lingsfeyer" und dergl. hörten! oder viel- mehr, daß diese Stücke der Musik schon Geprä- ge wiedergegeben hätten, was sie -- ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Lassen Sie mich um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein Zwey Wünschen hierüber schliessen.
Unser jetzige musikalische Poesienbau -- welch ein Gothisches Gebäude! Wie fallen die Massen aus einander? Wo Verflössung? Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Täuschung schönen Wahnsinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder Schwestern herrsche oder diene -- ihr Pieri- den und Kastalinnen, wo?
Unsre eigentliche Kirchenmusiken haben noch eine erbärmlichere Gestalt. Das Erste, das berühmteste von Allen, Ramlers Tod Jesu, als Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menschenverstandes, (s. v. v.) welch ein Werk! Wer spricht? wer singt? erzählt sich Etwas in den Recitativen -- so kalt! so scholastisch! als kaum jener Simon von Kana würde gethan haben, da er vom Felde kam, und vorbey zu streichen Lust hatte. Und nun zwischen inne in Arien, in Choral, in Chören -- wer spricht? wer singt? auf Einmal eine nützliche Lehre aus der biblischen Geschichte gezogen, locus com- munis in der besten Gestalt! und dazu beynahe in allen Personen und Dichtungen des Lebens! und
von
H 3
Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi- tion „uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh- „lingsfeyer„ und dergl. hoͤrten! oder viel- mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ- ge wiedergegeben haͤtten, was ſie — ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen.
Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau — welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung? Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder Schweſtern herrſche oder diene — ihr Pieri- den und Kaſtalinnen, wo?
Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte, das beruͤhmteſte von Allen, Ramlers Tod Jeſu, als Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes, (ſ. v. v.) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen — ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener Simon von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren — wer ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, locus com- munis in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! und
von
H 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0121"n="117"/><p>Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi-<lb/>
tion „uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh-<lb/>„lingsfeyer„ und dergl. hoͤrten! oder viel-<lb/>
mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ-<lb/>
ge wiedergegeben haͤtten, was ſie — ehedem<lb/>
gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich<lb/>
um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein<lb/>
Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen.</p><lb/><p>Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau —<lb/>
welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die<lb/>
Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung?<lb/>
Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel?<lb/>
bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo<lb/>
endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder<lb/>
Schweſtern herrſche oder diene — ihr Pieri-<lb/>
den und Kaſtalinnen, wo?</p><lb/><p>Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben<lb/>
noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte,<lb/>
das beruͤhmteſte von Allen, <hirendition="#fr">Ramlers Tod<lb/>
Jeſu,</hi> als Werk des Genies, der Seele, des<lb/>
Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes,<lb/>
(<hirendition="#aq">ſ. v. v.</hi>) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer<lb/>ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen —<lb/>ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener <hirendition="#fr">Simon</hi><lb/>
von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde<lb/>
kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun<lb/>
zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren — wer<lb/>ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre<lb/>
aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, <hirendition="#aq">locus com-<lb/>
munis</hi> in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in<lb/>
allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! und<lb/><fwplace="bottom"type="sig">H 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">von</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[117/0121]
Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi-
tion „uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh-
„lingsfeyer„ und dergl. hoͤrten! oder viel-
mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ-
ge wiedergegeben haͤtten, was ſie — ehedem
gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich
um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein
Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen.
Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau —
welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die
Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung?
Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel?
bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo
endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder
Schweſtern herrſche oder diene — ihr Pieri-
den und Kaſtalinnen, wo?
Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben
noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte,
das beruͤhmteſte von Allen, Ramlers Tod
Jeſu, als Werk des Genies, der Seele, des
Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes,
(ſ. v. v.) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer
ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen —
ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener Simon
von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde
kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun
zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren — wer
ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre
aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, locus com-
munis in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in
allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! und
von
H 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/121>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.