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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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ner Natur wie in der Natur: denn er giebt
diese nur im verjüngten Maasse. Wie mü-
hevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen!
je mehr aber, wie laufen die Scenen! wie
kürzer die Reden und geflügelter die Seelen,
die Leidenschaft, die Handlung! und wie
mächtig sodann|dieses Laufen, das Hinstreuen
gewisser Worte, da niemand mehr Zeit hat.
Endlich zuletzt, wenn er den Leser ganz ge-
täuscht und im Abgrunde seiner Welt und
Leidenschaft verlohren sieht, wie wird er kühn,
was läßt er auf einander folgen! Lear stirbt
nach Cordelia, und Kent nach Lear! es ist
gleichsam Ende seiner Welt, jüngster Tag
da, da Alles auf einander rollet und hinstürzt,
der Himmel eingewickelt und die Berge fal-
len; das Maaß der Zeit ist hinweg. --
Freylich wieder nicht für den lustigen, mun-
tren Kaklogallinier, der mit heiler frischer
Haut in den fünften Akt käme, um an der
Uhr zu messen, wie viel da in welcher Zeit
sterben? aber Gott, wenn das Kritik, Thea-
ter, Jllusion seyn soll -- was wäre denn
Kritik? Jllusion? Theater? was bedeute-
ten alle die leeren Wörter.



Nun finge eben das Herz meiner Unter-
suchung an, "wie? auf welche Kunst und

"Schö-

ner Natur wie in der Natur: denn er giebt
dieſe nur im verjuͤngten Maaſſe. Wie muͤ-
hevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen!
je mehr aber, wie laufen die Scenen! wie
kuͤrzer die Reden und gefluͤgelter die Seelen,
die Leidenſchaft, die Handlung! und wie
maͤchtig ſodann|dieſes Laufen, das Hinſtreuen
gewiſſer Worte, da niemand mehr Zeit hat.
Endlich zuletzt, wenn er den Leſer ganz ge-
taͤuſcht und im Abgrunde ſeiner Welt und
Leidenſchaft verlohren ſieht, wie wird er kuͤhn,
was laͤßt er auf einander folgen! Lear ſtirbt
nach Cordelia, und Kent nach Lear! es iſt
gleichſam Ende ſeiner Welt, juͤngſter Tag
da, da Alles auf einander rollet und hinſtuͤrzt,
der Himmel eingewickelt und die Berge fal-
len; das Maaß der Zeit iſt hinweg. —
Freylich wieder nicht fuͤr den luſtigen, mun-
tren Kaklogallinier, der mit heiler friſcher
Haut in den fuͤnften Akt kaͤme, um an der
Uhr zu meſſen, wie viel da in welcher Zeit
ſterben? aber Gott, wenn das Kritik, Thea-
ter, Jlluſion ſeyn ſoll — was waͤre denn
Kritik? Jlluſion? Theater? was bedeute-
ten alle die leeren Woͤrter.



Nun finge eben das Herz meiner Unter-
ſuchung an, „wie? auf welche Kunſt und

„Schoͤ-
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[108/0112] ner Natur wie in der Natur: denn er giebt dieſe nur im verjuͤngten Maaſſe. Wie muͤ- hevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen! je mehr aber, wie laufen die Scenen! wie kuͤrzer die Reden und gefluͤgelter die Seelen, die Leidenſchaft, die Handlung! und wie maͤchtig ſodann|dieſes Laufen, das Hinſtreuen gewiſſer Worte, da niemand mehr Zeit hat. Endlich zuletzt, wenn er den Leſer ganz ge- taͤuſcht und im Abgrunde ſeiner Welt und Leidenſchaft verlohren ſieht, wie wird er kuͤhn, was laͤßt er auf einander folgen! Lear ſtirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es iſt gleichſam Ende ſeiner Welt, juͤngſter Tag da, da Alles auf einander rollet und hinſtuͤrzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fal- len; das Maaß der Zeit iſt hinweg. — Freylich wieder nicht fuͤr den luſtigen, mun- tren Kaklogallinier, der mit heiler friſcher Haut in den fuͤnften Akt kaͤme, um an der Uhr zu meſſen, wie viel da in welcher Zeit ſterben? aber Gott, wenn das Kritik, Thea- ter, Jlluſion ſeyn ſoll — was waͤre denn Kritik? Jlluſion? Theater? was bedeute- ten alle die leeren Woͤrter. Nun finge eben das Herz meiner Unter- ſuchung an, „wie? auf welche Kunſt und „Schoͤ-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/112>, abgerufen am 24.11.2024.