Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.unsre Vorfahren in ihren Gräbern würden sich deß erfreuen und eine neue Welt ihrer wahreren Söhne segnen. Endlich (denn lasset uns auch hier Klopstocks Spruch erfüllen Nie war gegen das Ausland ein anderes Land gerecht, wie Du!) zeigte sich hier auch noch ein Ausweg zu Liedern fremder Völker, die wir so wenig kennen und nur aus Liedern können kennen lernen. Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert: wie viel mehr Völker kennen wir, als Griechen und Römer! wie kennen wir sie aber? Von aussen, durch Frazenkupferstiche, und fremde Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen? oder von innen? durch ihre eigne Seele? aus Empfindung, Rede und That? - So sollte es seyn und ists wenig. Der pragmatische Geschicht- und Reisebeschreiber beschreibt, malt, schildert; er schildert immer, wie er sieht, aus eignem Kopfe, einseitig, gebildet, er lügt also, wenn er auch am wenigsten lügen will. Das einzige Mittel dagegen ist leicht und offenbar. Alle unpolizirte Völker singen und handeln; was sie handeln, singen sie und singen Abhandlung. Ihre Gesänge sind das Archiv des Volks, der Schaz ihrer Wissenschaft und Religion, ihrer Theogonie und Kosmogonien der Thaten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beym Brautbett und Grabe. Die Natur hat ihnen einen Trost gegen viele Uebel gegeben, die sie drücken, und einen Ersaz vieler sogenannten Glückseligkeiten, die wir geniessen: d.i. Freyheitsliebe, Müssiggang, Taumel und Gesang. Da malen sich alle, da erscheinen alle, wie sie sind. Die kriegrische Nazion singt Thaten; die zärtliche Liebe. Das scharfsinnige Volk macht Räthsel, das Volk von Einbildung Allegorien, Gleichnisse, lebendige Gemälde. Das Volk von warmer Leidenschaft kann nur Leidenschaft, wie das Volk unter schrecklichen Gegenständen sich auch schreckliche Götter unsre Vorfahren in ihren Gräbern würden sich deß erfreuen und eine neue Welt ihrer wahreren Söhne segnen. Endlich (denn lasset uns auch hier Klopstocks Spruch erfüllen Nie war gegen das Ausland ein anderes Land gerecht, wie Du!) zeigte sich hier auch noch ein Ausweg zu Liedern fremder Völker, die wir so wenig kennen und nur aus Liedern können kennen lernen. Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert: wie viel mehr Völker kennen wir, als Griechen und Römer! wie kennen wir sie aber? Von aussen, durch Frazenkupferstiche, und fremde Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen? oder von innen? durch ihre eigne Seele? aus Empfindung, Rede und That? – So sollte es seyn und ists wenig. Der pragmatische Geschicht- und Reisebeschreiber beschreibt, malt, schildert; er schildert immer, wie er sieht, aus eignem Kopfe, einseitig, gebildet, er lügt also, wenn er auch am wenigsten lügen will. Das einzige Mittel dagegen ist leicht und offenbar. Alle unpolizirte Völker singen und handeln; was sie handeln, singen sie und singen Abhandlung. Ihre Gesänge sind das Archiv des Volks, der Schaz ihrer Wissenschaft und Religion, ihrer Theogonie und Kosmogonien der Thaten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beym Brautbett und Grabe. Die Natur hat ihnen einen Trost gegen viele Uebel gegeben, die sie drücken, und einen Ersaz vieler sogenannten Glückseligkeiten, die wir geniessen: d.i. Freyheitsliebe, Müssiggang, Taumel und Gesang. Da malen sich alle, da erscheinen alle, wie sie sind. Die kriegrische Nazion singt Thaten; die zärtliche Liebe. 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unsre Vorfahren in ihren Gräbern würden sich deß erfreuen und eine neue Welt ihrer wahreren Söhne segnen.
Endlich (denn lasset uns auch hier Klopstocks Spruch erfüllen
Nie war gegen das Ausland
ein anderes Land gerecht, wie Du!)
zeigte sich hier auch noch ein Ausweg zu Liedern fremder Völker, die wir so wenig kennen und nur aus Liedern können kennen lernen.
Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert: wie viel mehr Völker kennen wir, als Griechen und Römer! wie kennen wir sie aber? Von aussen, durch Frazenkupferstiche, und fremde Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen? oder von innen? durch ihre eigne Seele? aus Empfindung, Rede und That? – So sollte es seyn und ists wenig. Der pragmatische Geschicht- und Reisebeschreiber beschreibt, malt, schildert; er schildert immer, wie er sieht, aus eignem Kopfe, einseitig, gebildet, er lügt also, wenn er auch am wenigsten lügen will.
Das einzige Mittel dagegen ist leicht und offenbar. Alle unpolizirte Völker singen und handeln; was sie handeln, singen sie und singen Abhandlung. Ihre Gesänge sind das Archiv des Volks, der Schaz ihrer Wissenschaft und Religion, ihrer Theogonie und Kosmogonien der Thaten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beym Brautbett und Grabe. Die Natur hat ihnen einen Trost gegen viele Uebel gegeben, die sie drücken, und einen Ersaz vieler sogenannten Glückseligkeiten, die wir geniessen: d.i. Freyheitsliebe, Müssiggang, Taumel und Gesang. Da malen sich alle, da erscheinen alle, wie sie sind. Die kriegrische Nazion singt Thaten; die zärtliche Liebe. Das scharfsinnige Volk macht Räthsel, das Volk von Einbildung Allegorien, Gleichnisse, lebendige Gemälde. Das Volk von warmer Leidenschaft kann nur Leidenschaft, wie das Volk unter schrecklichen Gegenständen sich auch schreckliche Götter
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/13>, abgerufen am 16.07.2024. |