Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

die Sprache schon im Vater und in der Mutter
gebildet, die sie die Kinder lehrten, aber dorfte
deswegen schon die Sprache ganz gebildet seyn,
auch selbst die, die sie sie nicht lehrten? Und konn-
ten denn die Kinder in einer neuern, weitern,
feinern Welt nichts mehr dazu erfinden? und ist
denn eine zum Theil gebildete, sich weiter fort-
bildende
Sprache ein Wiederspruch? Wenn ist
die Französische, durch Akademien und Autoren
und Wörterbücher so gebildete Sprache, denn so
zu Ende gebildet, daß sie sich nicht mit jedem
neuen originalen Autor, ja mit jedem Kopfe, der
neuen Ton in die Gesellschaft bringt, neu bilden,
oder mißbilden müßte? -- Mit solchen Para-
logismen sind die Verfechter der gegenseitigen
Meinung behangen -- man urtheile, ob es
lohne, sich auf jede Kleinigkeit ihrer Einwürfe
einzulassen.

Ein andrer z. B. sagt: "wie doch die Men-
"schen wohl je aus Nothdurft ihre Sprache hätten
"fortbilden wollen, wenn sie Lukrezens Mutum et
"turpe pecus
gewesen wären?" und läßt sich auf
eine Menge halbwahrer Jnstanzen der Wilden

ein.
M 4

die Sprache ſchon im Vater und in der Mutter
gebildet, die ſie die Kinder lehrten, aber dorfte
deswegen ſchon die Sprache ganz gebildet ſeyn,
auch ſelbſt die, die ſie ſie nicht lehrten? Und konn-
ten denn die Kinder in einer neuern, weitern,
feinern Welt nichts mehr dazu erfinden? und iſt
denn eine zum Theil gebildete, ſich weiter fort-
bildende
Sprache ein Wiederſpruch? Wenn iſt
die Franzoͤſiſche, durch Akademien und Autoren
und Woͤrterbuͤcher ſo gebildete Sprache, denn ſo
zu Ende gebildet, daß ſie ſich nicht mit jedem
neuen originalen Autor, ja mit jedem Kopfe, der
neuen Ton in die Geſellſchaft bringt, neu bilden,
oder mißbilden muͤßte? — Mit ſolchen Para-
logiſmen ſind die Verfechter der gegenſeitigen
Meinung behangen — man urtheile, ob es
lohne, ſich auf jede Kleinigkeit ihrer Einwuͤrfe
einzulaſſen.

Ein andrer z. B. ſagt: „wie doch die Men-
„ſchen wohl je aus Nothdurft ihre Sprache haͤtten
„fortbilden wollen, wenn ſie Lukrezens Mutum et
„turpe pecus
geweſen waͤren?„ und laͤßt ſich auf
eine Menge halbwahrer Jnſtanzen der Wilden

ein.
M 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0189" n="183"/><hi rendition="#fr">die</hi> Sprache &#x017F;chon im Vater und in der Mutter<lb/><hi rendition="#fr">gebildet, die</hi> &#x017F;ie die Kinder lehrten, aber dorfte<lb/>
deswegen &#x017F;chon die Sprache <hi rendition="#fr">ganz</hi> gebildet &#x017F;eyn,<lb/>
auch &#x017F;elb&#x017F;t die, die &#x017F;ie &#x017F;ie nicht lehrten? Und konn-<lb/>
ten denn die Kinder in einer neuern, weitern,<lb/>
feinern Welt nichts mehr dazu erfinden? und i&#x017F;t<lb/>
denn eine zum Theil <hi rendition="#fr">gebildete,</hi> &#x017F;ich weiter <hi rendition="#fr">fort-<lb/>
bildende</hi> Sprache ein Wieder&#x017F;pruch? Wenn i&#x017F;t<lb/>
die Franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che, durch Akademien und Autoren<lb/>
und Wo&#x0364;rterbu&#x0364;cher &#x017F;o gebildete Sprache, denn &#x017F;o<lb/><hi rendition="#fr">zu Ende gebildet,</hi> daß &#x017F;ie &#x017F;ich nicht mit jedem<lb/>
neuen originalen Autor, ja mit jedem Kopfe, der<lb/>
neuen Ton in die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft bringt, neu <hi rendition="#fr">bilden,</hi><lb/>
oder mißbilden mu&#x0364;ßte? &#x2014; Mit &#x017F;olchen Para-<lb/>
logi&#x017F;men &#x017F;ind die Verfechter der gegen&#x017F;eitigen<lb/>
Meinung behangen &#x2014; man urtheile, ob es<lb/>
lohne, &#x017F;ich auf jede Kleinigkeit ihrer Einwu&#x0364;rfe<lb/>
einzula&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Ein andrer z. B. &#x017F;agt: &#x201E;wie doch die Men-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chen wohl je aus Nothdurft ihre Sprache ha&#x0364;tten<lb/>
&#x201E;fortbilden wollen, wenn &#x017F;ie Lukrezens <hi rendition="#aq">Mutum et<lb/>
&#x201E;turpe pecus</hi> gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren?&#x201E; und la&#x0364;ßt &#x017F;ich auf<lb/>
eine Menge halbwahrer Jn&#x017F;tanzen der Wilden<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ein.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0189] die Sprache ſchon im Vater und in der Mutter gebildet, die ſie die Kinder lehrten, aber dorfte deswegen ſchon die Sprache ganz gebildet ſeyn, auch ſelbſt die, die ſie ſie nicht lehrten? Und konn- ten denn die Kinder in einer neuern, weitern, feinern Welt nichts mehr dazu erfinden? und iſt denn eine zum Theil gebildete, ſich weiter fort- bildende Sprache ein Wiederſpruch? Wenn iſt die Franzoͤſiſche, durch Akademien und Autoren und Woͤrterbuͤcher ſo gebildete Sprache, denn ſo zu Ende gebildet, daß ſie ſich nicht mit jedem neuen originalen Autor, ja mit jedem Kopfe, der neuen Ton in die Geſellſchaft bringt, neu bilden, oder mißbilden muͤßte? — Mit ſolchen Para- logiſmen ſind die Verfechter der gegenſeitigen Meinung behangen — man urtheile, ob es lohne, ſich auf jede Kleinigkeit ihrer Einwuͤrfe einzulaſſen. Ein andrer z. B. ſagt: „wie doch die Men- „ſchen wohl je aus Nothdurft ihre Sprache haͤtten „fortbilden wollen, wenn ſie Lukrezens Mutum et „turpe pecus geweſen waͤren?„ und laͤßt ſich auf eine Menge halbwahrer Jnſtanzen der Wilden ein. M 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/189
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/189>, abgerufen am 10.05.2024.