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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Doch so lebhaft dies Bild ausgemahlt werde:
so ists nicht das Bild des Menschen -- es ist nur
Eine Seite seiner Oberfläche und auch die stehet
im falschen Licht. Wenn Verstand und Beson-
nenheit die Naturgabe seiner Gattung ist:

so müßte diese sich sogleich äußern, da sich die schwä-
chere Sinnlichkeit und alle das klägliche seiner Ent-
behrungen äußerte. Das Jnstinktlose, elende
Geschöpf, was so verlassen aus den Händen der
Natur kam, war auch vom ersten Augenblicke an,
das freitbätige vernünftige Geschöpf, das sich
selbst helfen sollte, und nicht anders, als konnte.
Alle Mängel und Bedürfnisse, als Thier, waren
dringende Anläße, sich mit allen Kräften, als
Mensch zu zeigen: so wie diese Kräfte der Mensch-
heit nicht etwa blos schwache Schadloshaltungen
gegen die ihm versagten größern Thiervollkommen-
heiten waren, wie unsre neue Philosophie, die
große Gönnerinn der Thiere! will: sondern sie wa-
ren, ohne Vergleichung und eigentliche Gegenein-
andermessung seine Art. Der Mittelpunkt seiner
Schwere, die Hauptrichtung seiner Seelenwürkun-
gen fiel so auf diesen Verstand, auf menschliche

Be-
K

Doch ſo lebhaft dies Bild ausgemahlt werde:
ſo iſts nicht das Bild des Menſchen — es iſt nur
Eine Seite ſeiner Oberflaͤche und auch die ſtehet
im falſchen Licht. Wenn Verſtand und Beſon-
nenheit die Naturgabe ſeiner Gattung iſt:

ſo muͤßte dieſe ſich ſogleich aͤußern, da ſich die ſchwaͤ-
chere Sinnlichkeit und alle das klaͤgliche ſeiner Ent-
behrungen aͤußerte. Das Jnſtinktloſe, elende
Geſchoͤpf, was ſo verlaſſen aus den Haͤnden der
Natur kam, war auch vom erſten Augenblicke an,
das freitbaͤtige vernuͤnftige Geſchoͤpf, das ſich
ſelbſt helfen ſollte, und nicht anders, als konnte.
Alle Maͤngel und Beduͤrfniſſe, als Thier, waren
dringende Anlaͤße, ſich mit allen Kraͤften, als
Menſch zu zeigen: ſo wie dieſe Kraͤfte der Menſch-
heit nicht etwa blos ſchwache Schadloshaltungen
gegen die ihm verſagten groͤßern Thiervollkommen-
heiten waren, wie unſre neue Philoſophie, die
große Goͤnnerinn der Thiere! will: ſondern ſie wa-
ren, ohne Vergleichung und eigentliche Gegenein-
andermeſſung ſeine Art. Der Mittelpunkt ſeiner
Schwere, die Hauptrichtung ſeiner Seelenwuͤrkun-
gen fiel ſo auf dieſen Verſtand, auf menſchliche

Be-
K
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[145/0151] Doch ſo lebhaft dies Bild ausgemahlt werde: ſo iſts nicht das Bild des Menſchen — es iſt nur Eine Seite ſeiner Oberflaͤche und auch die ſtehet im falſchen Licht. Wenn Verſtand und Beſon- nenheit die Naturgabe ſeiner Gattung iſt: ſo muͤßte dieſe ſich ſogleich aͤußern, da ſich die ſchwaͤ- chere Sinnlichkeit und alle das klaͤgliche ſeiner Ent- behrungen aͤußerte. Das Jnſtinktloſe, elende Geſchoͤpf, was ſo verlaſſen aus den Haͤnden der Natur kam, war auch vom erſten Augenblicke an, das freitbaͤtige vernuͤnftige Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt helfen ſollte, und nicht anders, als konnte. Alle Maͤngel und Beduͤrfniſſe, als Thier, waren dringende Anlaͤße, ſich mit allen Kraͤften, als Menſch zu zeigen: ſo wie dieſe Kraͤfte der Menſch- heit nicht etwa blos ſchwache Schadloshaltungen gegen die ihm verſagten groͤßern Thiervollkommen- heiten waren, wie unſre neue Philoſophie, die große Goͤnnerinn der Thiere! will: ſondern ſie wa- ren, ohne Vergleichung und eigentliche Gegenein- andermeſſung ſeine Art. Der Mittelpunkt ſeiner Schwere, die Hauptrichtung ſeiner Seelenwuͤrkun- gen fiel ſo auf dieſen Verſtand, auf menſchliche Be- K

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/151>, abgerufen am 25.11.2024.