Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

erträglichsten
Beklemmung besinden, oder vielmehr, der
menschliche Leib würde in eine Spannung gerathen, die in
wenigen Augenblicken tödten müßte, wie schon jetzt der
Schreck zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellun-
gen, welche, wie wir zu sagen Pflegen, das Gedächtniß auf-
bewahrt, und von denen wir wohl wissen, daß sie sich bey
der leichtesten Veranlassung reproduciren können, -- sind im
unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand
des Bewußtseyns von ihnen gar nichts.

20. Zweitens: die Zeit, wahrend welcher eine oder
einige Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle verwei-
len, kann verlängert werden, wenn eine Reihe von.neuen,
aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt.

Jn diesen Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar
gewohnte, anhaltende Beschäfftigung. Sie drangt die frü-
hern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie die stärkern
sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Orga-
nismus, und machen es endlich nothwendig, daß die Be-
schäftigung aufhöre; alsdann erheben sie sich schnell, mit
einem Gefühl der Erleichterung, das man Erhohlung
nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, ob-
gleich die erste Ursache rein psychologisch ist.

21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach ein-
ander auf die mechanische Schwelle getrieben werden, so ent-
stehen schnell hinter einander mehrere plötzliche Abän-
derungen
in den Gesetzen der geistigen Bewegungen.

Auf solche Weise erklärt es sich, daß der Lauf unserer
Gedanken so oft stoßweise und springend, ja scheinbar ganz
unregelmäßig gesunden wird. Dieser Schein betriegt, so
wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmäßigkeit im
menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternen-
himmel.

Anmerkung. Als ein Gegenstück zu den zugleich

erträglichsten
Beklemmung besinden, oder vielmehr, der
menschliche Leib würde in eine Spannung gerathen, die in
wenigen Augenblicken tödten müßte, wie schon jetzt der
Schreck zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellun-
gen, welche, wie wir zu sagen Pflegen, das Gedächtniß auf-
bewahrt, und von denen wir wohl wissen, daß sie sich bey
der leichtesten Veranlassung reproduciren können, — sind im
unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand
des Bewußtseyns von ihnen gar nichts.

20. Zweitens: die Zeit, wahrend welcher eine oder
einige Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle verwei-
len, kann verlängert werden, wenn eine Reihe von.neuen,
aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt.

Jn diesen Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar
gewohnte, anhaltende Beschäfftigung. Sie drangt die frü-
hern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie die stärkern
sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Orga-
nismus, und machen es endlich nothwendig, daß die Be-
schäftigung aufhöre; alsdann erheben sie sich schnell, mit
einem Gefühl der Erleichterung, das man Erhohlung
nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, ob-
gleich die erste Ursache rein psychologisch ist.

21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach ein-
ander auf die mechanische Schwelle getrieben werden, so ent-
stehen schnell hinter einander mehrere plötzliche Abän-
derungen
in den Gesetzen der geistigen Bewegungen.

Auf solche Weise erklärt es sich, daß der Lauf unserer
Gedanken so oft stoßweise und springend, ja scheinbar ganz
unregelmäßig gesunden wird. Dieser Schein betriegt, so
wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmäßigkeit im
menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternen-
himmel.

Anmerkung. Als ein Gegenstück zu den zugleich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0023" n="15"/>
          <p>erträglichsten<lb/>
Beklemmung besinden, oder vielmehr, der<lb/>
menschliche Leib
             würde in eine Spannung gerathen, die in<lb/>
wenigen Augenblicken tödten müßte, wie
             schon jetzt der<lb/><hi rendition="#g">Schreck</hi> zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellun-<lb/>
gen, welche, wie wir zu sagen Pflegen, das Gedächtniß auf-<lb/>
bewahrt, und von denen
             wir wohl wissen, daß sie sich bey<lb/>
der leichtesten Veranlassung reproduciren
             können, &#x2014; sind im<lb/>
unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand<lb/>
des Bewußtseyns von ihnen gar nichts.</p><lb/>
          <p>20. Zweitens: die Zeit, wahrend welcher eine oder<lb/>
einige Vorstellungen auf der
             mechanischen Schwelle verwei-<lb/>
len, kann verlängert werden, wenn eine Reihe
             von.neuen,<lb/>
aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt.</p><lb/>
          <p>Jn diesen Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar<lb/>
gewohnte, anhaltende
             Beschäfftigung. Sie drangt die frü-<lb/>
hern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie
             die stärkern<lb/>
sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Orga-<lb/>
nismus, und machen es endlich nothwendig, daß die Be-<lb/>
schäftigung aufhöre; alsdann
             erheben sie sich schnell, mit<lb/>
einem Gefühl der Erleichterung, das man <hi rendition="#g">Erhohlung</hi><lb/>
nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, ob-<lb/>
gleich die erste Ursache
             rein psychologisch ist.</p><lb/>
          <p>21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach ein-<lb/>
ander auf die mechanische
             Schwelle getrieben werden, so ent-<lb/>
stehen schnell hinter einander mehrere <hi rendition="#g">plötzliche Abän-<lb/>
derungen</hi> in den Gesetzen der geistigen
             Bewegungen.</p><lb/>
          <p>Auf solche Weise erklärt es sich, daß der Lauf unserer<lb/>
Gedanken so oft stoßweise
             und springend, ja scheinbar ganz<lb/>
unregelmäßig gesunden wird. Dieser Schein
             betriegt, so<lb/>
wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmäßigkeit im<lb/>
menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternen-<lb/>
himmel.</p>
          <p><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>. Als ein Gegenstück zu den zugleich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0023] erträglichsten Beklemmung besinden, oder vielmehr, der menschliche Leib würde in eine Spannung gerathen, die in wenigen Augenblicken tödten müßte, wie schon jetzt der Schreck zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellun- gen, welche, wie wir zu sagen Pflegen, das Gedächtniß auf- bewahrt, und von denen wir wohl wissen, daß sie sich bey der leichtesten Veranlassung reproduciren können, — sind im unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand des Bewußtseyns von ihnen gar nichts. 20. Zweitens: die Zeit, wahrend welcher eine oder einige Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle verwei- len, kann verlängert werden, wenn eine Reihe von.neuen, aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt. Jn diesen Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar gewohnte, anhaltende Beschäfftigung. Sie drangt die frü- hern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie die stärkern sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Orga- nismus, und machen es endlich nothwendig, daß die Be- schäftigung aufhöre; alsdann erheben sie sich schnell, mit einem Gefühl der Erleichterung, das man Erhohlung nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, ob- gleich die erste Ursache rein psychologisch ist. 21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach ein- ander auf die mechanische Schwelle getrieben werden, so ent- stehen schnell hinter einander mehrere plötzliche Abän- derungen in den Gesetzen der geistigen Bewegungen. Auf solche Weise erklärt es sich, daß der Lauf unserer Gedanken so oft stoßweise und springend, ja scheinbar ganz unregelmäßig gesunden wird. Dieser Schein betriegt, so wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmäßigkeit im menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternen- himmel. Anmerkung. Als ein Gegenstück zu den zugleich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/23
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/23>, abgerufen am 21.11.2024.