Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

das Object eine Complexion von Merkmalen, nach Art der
sinnlichen Dinge, seyn; diese aber muß sich erst aus der
ganzen Umgebung ausgeschieden haben (194), damit die
Auffassung das Object als ein solches und kein anderes be-
gränzen könne. Hiebey, erscheint das Object gleichsam auf
einem Hintergrunde früherer Vorstellungen, die es zugleich
reproducirt und hemmt; es selbst erhält dadurch bestimmte
Umrisse, sowohl in räumlicher, als in jeder andern Hinsicht.
Eben deshalb hat jede Anschauung (sehr ungleich der blo-
ßen Empfindung) die Tendenz, in eine Menge von Urthei-
len zugleich auszubrechen (wie in 182), die sich jedoch
meistens gegenseitig ersticken, theils wegen der Hemmung
unter ihren Prädicaten, andern Theils weil sie nicht alle
zugleich Worte finden können; oftmals auch, weil die Auf-
fassung von einem Gegenstande zum andern fortrückt.

Die Anschauung ist demnach ein sehr verwickelter Pro-
ceß, der durch viele frühere Productionen vorbereitet
seyn muß (nicht durch irgend welche, im Gemüthe vorhan-
dene Formen), und der alsdann mit psychologischer Noth-
wendigkeit so erfolgt, wie er kann, gleichviel ob dadurch
ein realer Gegenstand, oder eine täuschende Gestalt vorge-
bildet wnd. Dies zu prüfen ist die Sache des Denkens,
und der Entscheidung desselben kann keine Anschauung vor-
greifen, man mag ihr Namen geben, welche man will.

Endlich die Passivität im Anschauen (welche durch das
Wort Auffassen, nämlich eines Gegebenen, ausge-
drückt wird), ist nicht unmittelbar ein leidender Zustand der
Seele, von welcher vielmehr die Anschauung producirt
wird, obgleich ohne irgend ein Bewußtseyn der Thätigkeit.
Sondern leidend verhalten sich diejenigen Vorstellungen,
auf denen, als dem Hintergrunde, die Wahrnehmung ihre
Umrisse zeichnet, oder ohne Vild, welche vermöge des Gleich-
artigen, das sie mit der Wahrnehmung gemein habe von

das Object eine Complexion von Merkmalen, nach Art der
sinnlichen Dinge, seyn; diese aber muß sich erst aus der
ganzen Umgebung ausgeschieden haben (194), damit die
Auffassung das Object als ein solches und kein anderes be-
gränzen könne. Hiebey, erscheint das Object gleichsam auf
einem Hintergrunde früherer Vorstellungen, die es zugleich
reproducirt und hemmt; es selbst erhält dadurch bestimmte
Umrisse, sowohl in räumlicher, als in jeder andern Hinsicht.
Eben deshalb hat jede Anschauung (sehr ungleich der blo-
ßen Empfindung) die Tendenz, in eine Menge von Urthei-
len zugleich auszubrechen (wie in 182), die sich jedoch
meistens gegenseitig ersticken, theils wegen der Hemmung
unter ihren Prädicaten, andern Theils weil sie nicht alle
zugleich Worte finden können; oftmals auch, weil die Auf-
fassung von einem Gegenstande zum andern fortrückt.

Die Anschauung ist demnach ein sehr verwickelter Pro-
ceß, der durch viele frühere Productionen vorbereitet
seyn muß (nicht durch irgend welche, im Gemüthe vorhan-
dene Formen), und der alsdann mit psychologischer Noth-
wendigkeit so erfolgt, wie er kann, gleichviel ob dadurch
ein realer Gegenstand, oder eine täuschende Gestalt vorge-
bildet wnd. Dies zu prüfen ist die Sache des Denkens,
und der Entscheidung desselben kann keine Anschauung vor-
greifen, man mag ihr Namen geben, welche man will.

Endlich die Passivität im Anschauen (welche durch das
Wort Auffassen, nämlich eines Gegebenen, ausge-
drückt wird), ist nicht unmittelbar ein leidender Zustand der
Seele, von welcher vielmehr die Anschauung producirt
wird, obgleich ohne irgend ein Bewußtseyn der Thätigkeit.
Sondern leidend verhalten sich diejenigen Vorstellungen,
auf denen, als dem Hintergrunde, die Wahrnehmung ihre
Umrisse zeichnet, oder ohne Vild, welche vermöge des Gleich-
artigen, das sie mit der Wahrnehmung gemein habe von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0173" n="165"/>
das Object eine Complexion von Merkmalen, nach Art der<lb/>
sinnlichen Dinge, seyn; diese aber muß sich erst aus der<lb/>
ganzen Umgebung
               ausgeschieden haben (194), damit die<lb/>
Auffassung das Object als ein solches und
               kein anderes be-<lb/>
gränzen könne. Hiebey, erscheint das Object gleichsam auf<lb/>
einem Hintergrunde früherer Vorstellungen, die es zugleich<lb/>
reproducirt und
               hemmt; es selbst erhält dadurch bestimmte<lb/>
Umrisse, sowohl in räumlicher, als in
               jeder andern Hinsicht.<lb/>
Eben deshalb hat jede Anschauung (sehr ungleich der
               blo-<lb/>
ßen Empfindung) die Tendenz, in eine Menge von Urthei-<lb/>
len zugleich
               auszubrechen (wie in 182), die sich jedoch<lb/>
meistens gegenseitig ersticken,
               theils wegen der Hemmung<lb/>
unter ihren Prädicaten, andern Theils weil sie nicht
               alle<lb/>
zugleich Worte finden können; oftmals auch, weil die Auf-<lb/>
fassung von
               einem Gegenstande zum andern fortrückt.</p><lb/>
            <p>Die Anschauung ist demnach ein sehr verwickelter Pro-<lb/>
ceß, der durch viele
               frühere <hi rendition="#g">Productionen</hi> vorbereitet<lb/>
seyn muß (nicht durch
               irgend welche, im Gemüthe vorhan-<lb/>
dene Formen), und der alsdann mit
               psychologischer Noth-<lb/>
wendigkeit so erfolgt, wie er kann, gleichviel ob dadurch<lb/>
ein realer Gegenstand, oder eine täuschende Gestalt vorge-<lb/>
bildet wnd. Dies
               zu prüfen ist die Sache des Denkens,<lb/>
und der Entscheidung desselben kann <hi rendition="#g">keine</hi> Anschauung vor-<lb/>
greifen, man mag ihr Namen geben,
               welche man will.</p>
            <p>Endlich die Passivität im Anschauen (welche durch das<lb/>
Wort <hi rendition="#g">Auffassen</hi>, nämlich eines <hi rendition="#g">Gegebenen</hi>, ausge-<lb/>
drückt
               wird), ist nicht unmittelbar ein leidender Zustand der<lb/><hi rendition="#g">Seele</hi>, von welcher vielmehr die Anschauung <hi rendition="#g">producirt</hi><lb/>
wird, obgleich ohne irgend ein Bewußtseyn der Thätigkeit.<lb/>
Sondern leidend
               verhalten sich diejenigen <hi rendition="#g">Vorstellungen</hi>,<lb/>
auf denen, als
               dem Hintergrunde, die Wahrnehmung ihre<lb/>
Umrisse zeichnet, oder ohne Vild, welche
               vermöge des Gleich-<lb/>
artigen, das sie mit der Wahrnehmung gemein habe von
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0173] das Object eine Complexion von Merkmalen, nach Art der sinnlichen Dinge, seyn; diese aber muß sich erst aus der ganzen Umgebung ausgeschieden haben (194), damit die Auffassung das Object als ein solches und kein anderes be- gränzen könne. Hiebey, erscheint das Object gleichsam auf einem Hintergrunde früherer Vorstellungen, die es zugleich reproducirt und hemmt; es selbst erhält dadurch bestimmte Umrisse, sowohl in räumlicher, als in jeder andern Hinsicht. Eben deshalb hat jede Anschauung (sehr ungleich der blo- ßen Empfindung) die Tendenz, in eine Menge von Urthei- len zugleich auszubrechen (wie in 182), die sich jedoch meistens gegenseitig ersticken, theils wegen der Hemmung unter ihren Prädicaten, andern Theils weil sie nicht alle zugleich Worte finden können; oftmals auch, weil die Auf- fassung von einem Gegenstande zum andern fortrückt. Die Anschauung ist demnach ein sehr verwickelter Pro- ceß, der durch viele frühere Productionen vorbereitet seyn muß (nicht durch irgend welche, im Gemüthe vorhan- dene Formen), und der alsdann mit psychologischer Noth- wendigkeit so erfolgt, wie er kann, gleichviel ob dadurch ein realer Gegenstand, oder eine täuschende Gestalt vorge- bildet wnd. Dies zu prüfen ist die Sache des Denkens, und der Entscheidung desselben kann keine Anschauung vor- greifen, man mag ihr Namen geben, welche man will. Endlich die Passivität im Anschauen (welche durch das Wort Auffassen, nämlich eines Gegebenen, ausge- drückt wird), ist nicht unmittelbar ein leidender Zustand der Seele, von welcher vielmehr die Anschauung producirt wird, obgleich ohne irgend ein Bewußtseyn der Thätigkeit. Sondern leidend verhalten sich diejenigen Vorstellungen, auf denen, als dem Hintergrunde, die Wahrnehmung ihre Umrisse zeichnet, oder ohne Vild, welche vermöge des Gleich- artigen, das sie mit der Wahrnehmung gemein habe von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/173
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/173>, abgerufen am 25.11.2024.