Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Rückenmark) dafür mit Wahrscheinlichkeit nachweisen kann,
ist bekannt. Auch bedarf es keines vesten Sitzes, sondern
die Seele kann sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne
daß hievon in ihren Vorstellungen nur die geringste Ahn-
dung, oder bey anatomischen Nachsuchungen die geringste
Spur vorkäme; wohl aber kann man Veränderung ihres
Sitzes als eine sehr fruchtbare Hypothese zur Erklärung ih-
rer anomalischen Zustände betrachten.

Anmerkung 1. Diese Stelle hat viel Verwunderung
erregt. Möchten doch die Physiologen sich erinnern, daß
ihr Beobachtungskreis im Gebiete des Räumlichen liegt;
und möchten sie dem Metaphysiker überlassen, zu sorgen,
daß nicht dem Raume mehr zugestanden werde, als ihm zu-
kommt! Wollen sie aber seine Sorgen mit ihm theilen, so
müssen sie ernstlich Metaphysik studiren. Dann wird man
mit ihnen weiter reden können.

Anmerkung 2. Man würde ohne Grund annehmen,
daß in allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele
an derselben Stelle sey. Wahrscheinlich ist er bey Thieren,
besonders bey den niedern, im Rückenmarke. Noch mehr!
Man darf nicht voraussetzen, daß jedes Thier nur Eine
Seele habe. Bey Gewürmen, deren abgeschnittene Theile
fortleben, ist das Gegentheil wahrscheinlich. Jm menschli-
chen Nervensysteme mögen sich gar viele Elemente befinden,
deren innere Bildung die einer Thierseele von, der niedrigern
Art weit übertrifft. (Uebrigens darf man nie vergessen, daß
Lebenszeichen noch nicht Seelenzeichen sind. Jn
abgetrennten organischen Theilen erhält sich eine Zeitlang
Leben ohne Seele.)

Wollte man aber dem Menschen mehrere Seelen in
Einem Leibe beylegen, so müßte man erstlich sich hüten,
unter ihnen die geistigen Tätigkeiten vertheilt zu
denken, vielmehr würden dieselben in jeder Seele ganz

Rückenmark) dafür mit Wahrscheinlichkeit nachweisen kann,
ist bekannt. Auch bedarf es keines vesten Sitzes, sondern
die Seele kann sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne
daß hievon in ihren Vorstellungen nur die geringste Ahn-
dung, oder bey anatomischen Nachsuchungen die geringste
Spur vorkäme; wohl aber kann man Veränderung ihres
Sitzes als eine sehr fruchtbare Hypothese zur Erklärung ih-
rer anomalischen Zustände betrachten.

Anmerkung 1. Diese Stelle hat viel Verwunderung
erregt. Möchten doch die Physiologen sich erinnern, daß
ihr Beobachtungskreis im Gebiete des Räumlichen liegt;
und möchten sie dem Metaphysiker überlassen, zu sorgen,
daß nicht dem Raume mehr zugestanden werde, als ihm zu-
kommt! Wollen sie aber seine Sorgen mit ihm theilen, so
müssen sie ernstlich Metaphysik studiren. Dann wird man
mit ihnen weiter reden können.

Anmerkung 2. Man würde ohne Grund annehmen,
daß in allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele
an derselben Stelle sey. Wahrscheinlich ist er bey Thieren,
besonders bey den niedern, im Rückenmarke. Noch mehr!
Man darf nicht voraussetzen, daß jedes Thier nur Eine
Seele habe. Bey Gewürmen, deren abgeschnittene Theile
fortleben, ist das Gegentheil wahrscheinlich. Jm menschli-
chen Nervensysteme mögen sich gar viele Elemente befinden,
deren innere Bildung die einer Thierseele von, der niedrigern
Art weit übertrifft. (Uebrigens darf man nie vergessen, daß
Lebenszeichen noch nicht Seelenzeichen sind. Jn
abgetrennten organischen Theilen erhält sich eine Zeitlang
Leben ohne Seele.)

Wollte man aber dem Menschen mehrere Seelen in
Einem Leibe beylegen, so müßte man erstlich sich hüten,
unter ihnen die geistigen Tätigkeiten vertheilt zu
denken, vielmehr würden dieselben in jeder Seele ganz

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0138" n="130"/>
Rückenmark) dafür mit Wahrscheinlichkeit nachweisen kann,<lb/>
ist bekannt. Auch bedarf es keines vesten Sitzes, sondern<lb/>
die Seele kann
               sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne<lb/>
daß hievon in ihren Vorstellungen
               nur die geringste Ahn-<lb/>
dung, oder bey anatomischen Nachsuchungen die geringste<lb/>
Spur vorkäme; wohl aber kann man Veränderung ihres<lb/>
Sitzes als eine sehr
               fruchtbare Hypothese zur Erklärung ih-<lb/>
rer anomalischen Zustände betrachten.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Anmerkung 1</hi>. Diese Stelle hat viel Verwunderung<lb/>
erregt.
               Möchten doch die Physiologen sich erinnern, daß<lb/>
ihr Beobachtungskreis im Gebiete
               des Räumlichen liegt;<lb/>
und möchten sie dem Metaphysiker überlassen, zu sorgen,<lb/>
daß nicht dem Raume mehr zugestanden werde, als ihm zu-<lb/>
kommt! Wollen sie
               aber seine Sorgen mit ihm theilen, so<lb/>
müssen sie ernstlich Metaphysik studiren.
               Dann wird man<lb/>
mit ihnen weiter reden können.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Anmerkung 2</hi>. Man würde ohne Grund annehmen,<lb/>
daß in
               allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele<lb/>
an derselben Stelle sey.
               Wahrscheinlich ist er bey Thieren,<lb/>
besonders bey den niedern, im Rückenmarke.
               Noch mehr!<lb/>
Man darf nicht voraussetzen, daß jedes Thier nur Eine<lb/>
Seele
               habe. Bey Gewürmen, deren abgeschnittene Theile<lb/>
fortleben, ist das Gegentheil
               wahrscheinlich. Jm menschli-<lb/>
chen Nervensysteme mögen sich gar viele Elemente
               befinden,<lb/>
deren innere Bildung die einer Thierseele von, der niedrigern<lb/>
Art weit übertrifft. (Uebrigens darf man nie vergessen, daß<lb/><hi rendition="#g">Lebenszeichen</hi> noch nicht <hi rendition="#g">Seelenzeichen</hi> sind. Jn<lb/>
abgetrennten organischen Theilen erhält sich eine Zeitlang<lb/>
Leben
               ohne Seele.)</p><lb/>
            <p>Wollte man aber dem Menschen mehrere Seelen in<lb/>
Einem Leibe beylegen, so müßte
               man erstlich sich hüten,<lb/>
unter ihnen die geistigen Tätigkeiten <hi rendition="#g">vertheilt</hi> zu<lb/>
denken, vielmehr würden dieselben in jeder<hi rendition="#g"/> Seele <hi rendition="#g">ganz</hi><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0138] Rückenmark) dafür mit Wahrscheinlichkeit nachweisen kann, ist bekannt. Auch bedarf es keines vesten Sitzes, sondern die Seele kann sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne daß hievon in ihren Vorstellungen nur die geringste Ahn- dung, oder bey anatomischen Nachsuchungen die geringste Spur vorkäme; wohl aber kann man Veränderung ihres Sitzes als eine sehr fruchtbare Hypothese zur Erklärung ih- rer anomalischen Zustände betrachten. Anmerkung 1. Diese Stelle hat viel Verwunderung erregt. Möchten doch die Physiologen sich erinnern, daß ihr Beobachtungskreis im Gebiete des Räumlichen liegt; und möchten sie dem Metaphysiker überlassen, zu sorgen, daß nicht dem Raume mehr zugestanden werde, als ihm zu- kommt! Wollen sie aber seine Sorgen mit ihm theilen, so müssen sie ernstlich Metaphysik studiren. Dann wird man mit ihnen weiter reden können. Anmerkung 2. Man würde ohne Grund annehmen, daß in allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele an derselben Stelle sey. Wahrscheinlich ist er bey Thieren, besonders bey den niedern, im Rückenmarke. Noch mehr! Man darf nicht voraussetzen, daß jedes Thier nur Eine Seele habe. Bey Gewürmen, deren abgeschnittene Theile fortleben, ist das Gegentheil wahrscheinlich. Jm menschli- chen Nervensysteme mögen sich gar viele Elemente befinden, deren innere Bildung die einer Thierseele von, der niedrigern Art weit übertrifft. (Uebrigens darf man nie vergessen, daß Lebenszeichen noch nicht Seelenzeichen sind. Jn abgetrennten organischen Theilen erhält sich eine Zeitlang Leben ohne Seele.) Wollte man aber dem Menschen mehrere Seelen in Einem Leibe beylegen, so müßte man erstlich sich hüten, unter ihnen die geistigen Tätigkeiten vertheilt zu denken, vielmehr würden dieselben in jeder Seele ganz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/138
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/138>, abgerufen am 25.11.2024.