Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

nen müsse, die nicht bloss nach mechanischen und che-
mischen Gesetzen geschehen können. Und dann endlich
tritt die Erfahrung hinzu mit ihrer Aussage, es gebe
wirklich solche Materie, an der die Erklärungen der Me-
chanik und Chemie nothwendig scheitern müssen; es gebe
aber sehr verschiedene Stufen, in welchen sich dieselbe
über die chemischen und mechanischen Gesetze erhebe;
diese Stufen seyen nicht bloss an den Pflanzen und Thie-
ren überhaupt, sondern an den einzelnen Theilen und
Systemen derselben verschieden; auch steige in der so-
genannten Assimilation solche Materie, die als Nahrungs-
stoff aufgenommen worden, continuirlich höher in ihrer
Bildung; wie denn dieses Alles nach jenen, a priori ge-
fundenen, Gründen nicht anders zu erwarten war.

Aber der Sprachgebrauch benennt mit dem Worte
Leben -- erstlich die innern Erscheinungen der gei-
stigen
Bildung, welche wir in uns wahrnehmen; zwey-
tens die räumlichen Erscheinungen, wodurch Pflanzen
und Thiere sich über Metalle und Steine, Luft und
Wasser erheben. Wenn nun diese räumlichen Erschei-
nungen (wie so eben gesagt) nichts anders sind als Re-
sultate der innern Bildung; die nicht erscheinen kann,
ausser in unserm Bewusstseyn von dem, was in uns vor-
geht: so ist in dem Worte Leben die schlimmste Ver-
mengung, die nur irgend sich denken lässt. Nicht an-
ders, als ob Einer die Gedanken eines Individuums
verwechseln wollte, mit den Worten anderer Indivi-
duen; oder genauer, das Innere des Einen mit den äu-
ssern Zeichen
vom Innern nicht bloss Eines An-
dern,
sondern Vieler, ja unzählig vieler zusammen-
wirkender
Andern
. Diese Verwechselung ist um de-
sto ärger, je unvollkommner einerseits unser Wissen
von uns selbst, so wie die dunkele innere Wahrneh-
mung es darbietet; je mangelhafter andererseits unsre
Kenntniss der physiologischen Thatsachen; je entfern-
ter
endlich die Analogie unseres Innern mit dem, was
in den einzelnen Elementen der Thiere und

nen müsse, die nicht bloſs nach mechanischen und che-
mischen Gesetzen geschehen können. Und dann endlich
tritt die Erfahrung hinzu mit ihrer Aussage, es gebe
wirklich solche Materie, an der die Erklärungen der Me-
chanik und Chemie nothwendig scheitern müssen; es gebe
aber sehr verschiedene Stufen, in welchen sich dieselbe
über die chemischen und mechanischen Gesetze erhebe;
diese Stufen seyen nicht bloſs an den Pflanzen und Thie-
ren überhaupt, sondern an den einzelnen Theilen und
Systemen derselben verschieden; auch steige in der so-
genannten Assimilation solche Materie, die als Nahrungs-
stoff aufgenommen worden, continuirlich höher in ihrer
Bildung; wie denn dieses Alles nach jenen, a priori ge-
fundenen, Gründen nicht anders zu erwarten war.

Aber der Sprachgebrauch benennt mit dem Worte
Leben — erstlich die innern Erscheinungen der gei-
stigen
Bildung, welche wir in uns wahrnehmen; zwey-
tens die räumlichen Erscheinungen, wodurch Pflanzen
und Thiere sich über Metalle und Steine, Luft und
Wasser erheben. Wenn nun diese räumlichen Erschei-
nungen (wie so eben gesagt) nichts anders sind als Re-
sultate der innern Bildung; die nicht erscheinen kann,
auſser in unserm Bewuſstseyn von dem, was in uns vor-
geht: so ist in dem Worte Leben die schlimmste Ver-
mengung, die nur irgend sich denken läſst. Nicht an-
ders, als ob Einer die Gedanken eines Individuums
verwechseln wollte, mit den Worten anderer Indivi-
duen; oder genauer, das Innere des Einen mit den äu-
ſsern Zeichen
vom Innern nicht bloſs Eines An-
dern,
sondern Vieler, ja unzählig vieler zusammen-
wirkender
Andern
. Diese Verwechselung ist um de-
sto ärger, je unvollkommner einerseits unser Wissen
von uns selbst, so wie die dunkele innere Wahrneh-
mung es darbietet; je mangelhafter andererseits unsre
Kenntniſs der physiologischen Thatsachen; je entfern-
ter
endlich die Analogie unseres Innern mit dem, was
in den einzelnen Elementen der Thiere und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0093" n="58"/>
nen müsse, die nicht blo&#x017F;s nach mechanischen und che-<lb/>
mischen Gesetzen geschehen können. Und dann endlich<lb/>
tritt die Erfahrung hinzu mit ihrer Aussage, es gebe<lb/>
wirklich solche Materie, an der die Erklärungen der Me-<lb/>
chanik und Chemie nothwendig scheitern müssen; es gebe<lb/>
aber sehr verschiedene Stufen, in welchen sich dieselbe<lb/>
über die chemischen und mechanischen Gesetze erhebe;<lb/>
diese Stufen seyen nicht blo&#x017F;s an den Pflanzen und Thie-<lb/>
ren überhaupt, sondern an den einzelnen Theilen und<lb/>
Systemen derselben verschieden; auch steige in der so-<lb/>
genannten Assimilation solche Materie, die als Nahrungs-<lb/>
stoff aufgenommen worden, continuirlich höher in ihrer<lb/>
Bildung; wie denn dieses Alles nach jenen, <hi rendition="#i">a priori</hi> ge-<lb/>
fundenen, Gründen nicht anders zu erwarten war.</p><lb/>
            <p>Aber der Sprachgebrauch benennt mit dem Worte<lb/><hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Leben</hi></hi> &#x2014; erstlich die <hi rendition="#g">innern</hi> Erscheinungen der <hi rendition="#g">gei-<lb/>
stigen</hi> Bildung, welche wir <hi rendition="#g">in uns</hi> wahrnehmen; zwey-<lb/>
tens die <hi rendition="#g">räumlichen</hi> Erscheinungen, wodurch Pflanzen<lb/>
und Thiere sich über Metalle und Steine, Luft und<lb/>
Wasser erheben. Wenn nun diese räumlichen Erschei-<lb/>
nungen (wie so eben gesagt) nichts anders sind als Re-<lb/>
sultate der innern Bildung; die <hi rendition="#g">nicht</hi> erscheinen kann,<lb/>
au&#x017F;ser in unserm Bewu&#x017F;stseyn von dem, was <hi rendition="#g">in uns</hi> vor-<lb/>
geht: so ist in dem Worte <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Leben</hi></hi> die schlimmste Ver-<lb/>
mengung, die nur irgend sich denken lä&#x017F;st. Nicht an-<lb/>
ders, als ob Einer die <hi rendition="#g">Gedanken <hi rendition="#i">eines</hi></hi> Individuums<lb/>
verwechseln wollte, mit den <hi rendition="#g">Worten <hi rendition="#i">anderer</hi></hi> Indivi-<lb/>
duen; oder genauer, das <hi rendition="#g">Innere</hi> des Einen mit den <hi rendition="#g">äu-<lb/>
&#x017F;sern Zeichen</hi> vom Innern nicht blo&#x017F;s <hi rendition="#g">Eines An-<lb/>
dern,</hi> sondern Vieler, ja unzählig vieler <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">zusammen-<lb/>
wirkender</hi> Andern</hi>. Diese Verwechselung ist um de-<lb/>
sto ärger, je unvollkommner einerseits unser Wissen<lb/>
von uns selbst, so wie die dunkele innere Wahrneh-<lb/>
mung es darbietet; je mangelhafter andererseits unsre<lb/>
Kenntni&#x017F;s der physiologischen Thatsachen; je <hi rendition="#g">entfern-<lb/>
ter</hi> endlich <hi rendition="#g">die Analogie</hi> unseres Innern mit dem, was<lb/><hi rendition="#g">in den einzelnen Elementen der Thiere und<lb/></hi></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0093] nen müsse, die nicht bloſs nach mechanischen und che- mischen Gesetzen geschehen können. Und dann endlich tritt die Erfahrung hinzu mit ihrer Aussage, es gebe wirklich solche Materie, an der die Erklärungen der Me- chanik und Chemie nothwendig scheitern müssen; es gebe aber sehr verschiedene Stufen, in welchen sich dieselbe über die chemischen und mechanischen Gesetze erhebe; diese Stufen seyen nicht bloſs an den Pflanzen und Thie- ren überhaupt, sondern an den einzelnen Theilen und Systemen derselben verschieden; auch steige in der so- genannten Assimilation solche Materie, die als Nahrungs- stoff aufgenommen worden, continuirlich höher in ihrer Bildung; wie denn dieses Alles nach jenen, a priori ge- fundenen, Gründen nicht anders zu erwarten war. Aber der Sprachgebrauch benennt mit dem Worte Leben — erstlich die innern Erscheinungen der gei- stigen Bildung, welche wir in uns wahrnehmen; zwey- tens die räumlichen Erscheinungen, wodurch Pflanzen und Thiere sich über Metalle und Steine, Luft und Wasser erheben. Wenn nun diese räumlichen Erschei- nungen (wie so eben gesagt) nichts anders sind als Re- sultate der innern Bildung; die nicht erscheinen kann, auſser in unserm Bewuſstseyn von dem, was in uns vor- geht: so ist in dem Worte Leben die schlimmste Ver- mengung, die nur irgend sich denken läſst. Nicht an- ders, als ob Einer die Gedanken eines Individuums verwechseln wollte, mit den Worten anderer Indivi- duen; oder genauer, das Innere des Einen mit den äu- ſsern Zeichen vom Innern nicht bloſs Eines An- dern, sondern Vieler, ja unzählig vieler zusammen- wirkender Andern. Diese Verwechselung ist um de- sto ärger, je unvollkommner einerseits unser Wissen von uns selbst, so wie die dunkele innere Wahrneh- mung es darbietet; je mangelhafter andererseits unsre Kenntniſs der physiologischen Thatsachen; je entfern- ter endlich die Analogie unseres Innern mit dem, was in den einzelnen Elementen der Thiere und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/93
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/93>, abgerufen am 03.05.2024.