A. Vorläufige Betrachtung des Verstandes nach seinen Beziehungen.
Da der Verstand die Fähigkeit ist, sich im Vorstel- len nach der Qualität des Vorgestellten zu richten; da ferner der Verstand spät erwacht, sich langsam entwik- kelt, bey den Thieren fast ganz zu fehlen scheint: so richten sich nicht immer, nicht ursprünglich und von selbst, die Vorstellungen nach der Qualität des Vor- gestellten.
Nun ist zuvörderst klar, dass hier nicht von jenen einfachen Vorstellungen die Rede seyn kann, die wir im ersten Theile meistens betrachteten, und etwa mit a, b, c, bezeichneten; um sie als Grössen in der Rech- nung zu behandeln. Denn diese einfachen Vorstellun- gen, -- die man Empfindungen nennt, wenn man auf den Augenblick ihres ersten Entstehens hinweisen will, -- haben kein Vorgestelltes ausser sich selbst, mit dessen Qualität sie zusammenstimmen könn- ten oder auch nicht. Es sind innere Zustände der Seele, die man nur uneigentlich Vorstellungen nennt, da sie kein Bild eines Gegenstandes geben.
Demnach sind wir in der Region der zusammen- gesetzten Vorstellungen. Und es wird noch überdies ein Unterschied angenommen zwischen dem zusammen- gesetzten Vorgestellten, wie es sey, unabhängig vom Vorstellen; und dem wirklichen Geschehen eben dieses Vorstellens, das mit jenem übereinstimmt oder auch nicht.
Nach diesem Unterschiede brauchen wir nicht weit zu suchen. Die Erfahrung erinnert uns fürs erste an unzählige Gegenstände, denen es zukommt, auf bestimmte Weise vorgestellt zu werden, indem sie sich zur Wahrnehmung darbieten; so dass, wenn einmal Einer sie anders vorstellt, ihm sogleich hundert andre Men- schen zurufen, er habe sich geirrt.
A. Vorläufige Betrachtung des Verstandes nach seinen Beziehungen.
Da der Verstand die Fähigkeit ist, sich im Vorstel- len nach der Qualität des Vorgestellten zu richten; da ferner der Verstand spät erwacht, sich langsam entwik- kelt, bey den Thieren fast ganz zu fehlen scheint: so richten sich nicht immer, nicht ursprünglich und von selbst, die Vorstellungen nach der Qualität des Vor- gestellten.
Nun ist zuvörderst klar, daſs hier nicht von jenen einfachen Vorstellungen die Rede seyn kann, die wir im ersten Theile meistens betrachteten, und etwa mit a, b, c, bezeichneten; um sie als Gröſsen in der Rech- nung zu behandeln. Denn diese einfachen Vorstellun- gen, — die man Empfindungen nennt, wenn man auf den Augenblick ihres ersten Entstehens hinweisen will, — haben kein Vorgestelltes auſser sich selbst, mit dessen Qualität sie zusammenstimmen könn- ten oder auch nicht. Es sind innere Zustände der Seele, die man nur uneigentlich Vorstellungen nennt, da sie kein Bild eines Gegenstandes geben.
Demnach sind wir in der Region der zusammen- gesetzten Vorstellungen. Und es wird noch überdies ein Unterschied angenommen zwischen dem zusammen- gesetzten Vorgestellten, wie es sey, unabhängig vom Vorstellen; und dem wirklichen Geschehen eben dieses Vorstellens, das mit jenem übereinstimmt oder auch nicht.
Nach diesem Unterschiede brauchen wir nicht weit zu suchen. Die Erfahrung erinnert uns fürs erste an unzählige Gegenstände, denen es zukommt, auf bestimmte Weise vorgestellt zu werden, indem sie sich zur Wahrnehmung darbieten; so daſs, wenn einmal Einer sie anders vorstellt, ihm sogleich hundert andre Men- schen zurufen, er habe sich geirrt.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0076"n="41"/><divn="2"><head><hirendition="#i">A.</hi> Vorläufige Betrachtung des Verstandes nach<lb/>
seinen Beziehungen.</head><lb/><p>Da der Verstand die Fähigkeit ist, sich im Vorstel-<lb/>
len nach der Qualität des Vorgestellten zu richten; da<lb/>
ferner der Verstand spät erwacht, sich langsam entwik-<lb/>
kelt, bey den Thieren fast ganz zu fehlen scheint: so<lb/>
richten sich nicht immer, nicht ursprünglich und von<lb/>
selbst, die Vorstellungen nach der Qualität des Vor-<lb/>
gestellten.</p><lb/><p>Nun ist zuvörderst klar, daſs hier nicht von jenen<lb/><hirendition="#g">einfachen</hi> Vorstellungen die Rede seyn kann, die wir<lb/>
im ersten Theile meistens betrachteten, und etwa mit<lb/><hirendition="#i">a, b, c</hi>, bezeichneten; um sie als Gröſsen in der Rech-<lb/>
nung zu behandeln. Denn diese einfachen Vorstellun-<lb/>
gen, — die man <hirendition="#g">Empfindungen</hi> nennt, wenn man<lb/>
auf den Augenblick ihres ersten Entstehens hinweisen<lb/>
will, —<hirendition="#g">haben kein Vorgestelltes auſser sich<lb/>
selbst</hi>, mit dessen Qualität sie zusammenstimmen könn-<lb/>
ten oder auch nicht. Es sind innere Zustände der Seele,<lb/>
die man nur uneigentlich Vorstellungen nennt, da sie<lb/>
kein Bild eines Gegenstandes geben.</p><lb/><p>Demnach sind wir in der Region der <hirendition="#g">zusammen-<lb/>
gesetzten</hi> Vorstellungen. Und es wird noch überdies<lb/>
ein Unterschied angenommen zwischen dem zusammen-<lb/>
gesetzten <hirendition="#g">Vorgestellten</hi>, wie es sey, unabhängig vom<lb/>
Vorstellen; und dem wirklichen Geschehen eben dieses<lb/><hirendition="#g">Vorstellens</hi>, das mit jenem übereinstimmt oder<lb/>
auch nicht.</p><lb/><p>Nach diesem Unterschiede brauchen wir nicht weit<lb/>
zu suchen. Die Erfahrung erinnert uns fürs erste an<lb/>
unzählige Gegenstände, denen es zukommt, auf bestimmte<lb/>
Weise <hirendition="#g">vorgestellt zu werden</hi>, indem sie sich zur<lb/>
Wahrnehmung darbieten; so daſs, wenn einmal Einer<lb/>
sie anders vorstellt, ihm sogleich hundert andre Men-<lb/>
schen zurufen, er habe sich geirrt.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[41/0076]
A. Vorläufige Betrachtung des Verstandes nach
seinen Beziehungen.
Da der Verstand die Fähigkeit ist, sich im Vorstel-
len nach der Qualität des Vorgestellten zu richten; da
ferner der Verstand spät erwacht, sich langsam entwik-
kelt, bey den Thieren fast ganz zu fehlen scheint: so
richten sich nicht immer, nicht ursprünglich und von
selbst, die Vorstellungen nach der Qualität des Vor-
gestellten.
Nun ist zuvörderst klar, daſs hier nicht von jenen
einfachen Vorstellungen die Rede seyn kann, die wir
im ersten Theile meistens betrachteten, und etwa mit
a, b, c, bezeichneten; um sie als Gröſsen in der Rech-
nung zu behandeln. Denn diese einfachen Vorstellun-
gen, — die man Empfindungen nennt, wenn man
auf den Augenblick ihres ersten Entstehens hinweisen
will, — haben kein Vorgestelltes auſser sich
selbst, mit dessen Qualität sie zusammenstimmen könn-
ten oder auch nicht. Es sind innere Zustände der Seele,
die man nur uneigentlich Vorstellungen nennt, da sie
kein Bild eines Gegenstandes geben.
Demnach sind wir in der Region der zusammen-
gesetzten Vorstellungen. Und es wird noch überdies
ein Unterschied angenommen zwischen dem zusammen-
gesetzten Vorgestellten, wie es sey, unabhängig vom
Vorstellen; und dem wirklichen Geschehen eben dieses
Vorstellens, das mit jenem übereinstimmt oder
auch nicht.
Nach diesem Unterschiede brauchen wir nicht weit
zu suchen. Die Erfahrung erinnert uns fürs erste an
unzählige Gegenstände, denen es zukommt, auf bestimmte
Weise vorgestellt zu werden, indem sie sich zur
Wahrnehmung darbieten; so daſs, wenn einmal Einer
sie anders vorstellt, ihm sogleich hundert andre Men-
schen zurufen, er habe sich geirrt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/76>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.