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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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dazu ist kein Grund vorhanden. Die Einheit des Staats
ist zusammengesetzt aus den Individuen, den absterben-
den und heranwachsenden. Hingegen die Einheit der
Seele ist die strengste, die es geben kann, und gerade
daher rührt, wie am gehörigen Orte gezeigt worden, die
Abnahme der Empfänglichkeit. (Jede vollkommene Selbst-
erhaltung, um dies nochmals kurz zu wiederhohlen, ist
einfach, wie das einfache Wesen, das sich selbst erhält;
denn es ist in ihr sich selbst vollkommen gleich.
Darum ist sie eine absolute Einheit, die eben so wenig
wachsen kann, als sie aus Theilen besteht. Wenn aber
ihre Bedingung, das Zusammen, nur unvollkommen ein-
tritt: dann erzeugt sie sich Anfangs in minderem Grade;
und dieser Grad kann erhöht werden, bis er der Einheit
gleich wird, nur nicht weiter. Die Möglichkeit der Er-
höhung bis zur vollen Einheit ist die in jedem Augen-
blicke noch übrige Empfänglichkeit. Das Gesetz, nach
welchem dieselbe continuirlich abnimmt, findet sich im
§. 94.)

Was in der Gesellschaft, folglich mittelbar im Staate,
altert und sich abstumpft, das ist die Empfänglichkeit für
öfter angewendete Formen der Kunst und der Wissen-
schaft. Die lebhafte, allgemeine Aufregung, welche ehe-
dem Wieland und Klopstock hervorbrachten, kann
sich auf die nämliche Weise nicht wiederhohlen. --
Wenn der Staat die neuen Eindrücke fürchtet (wie die
Alten den neuen Tonweisen der Musiker eine gefährliche
Wichtigkeit beylegten,) so kann ihn die Abstumpfung
trösten.

Kunst und Wissenschaft wirken weder so viel, als
der erste Eifer, der erste Stoss neuer Eindrücke, zu ver-
sprechen scheint; noch so wenig, als die nachmalige
Kälte glauben macht, denn theilweise gehemmte Kräfte
wirken noch immer in dem Verhältnisse ihrer vollen Stärke,
nur ruhiger.

Wenn aber im Staate die Ungleichheit dergestalt
anwächst, dass ganze Klassen unterdrückt werden, weil

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dazu ist kein Grund vorhanden. Die Einheit des Staats
ist zusammengesetzt aus den Individuen, den absterben-
den und heranwachsenden. Hingegen die Einheit der
Seele ist die strengste, die es geben kann, und gerade
daher rührt, wie am gehörigen Orte gezeigt worden, die
Abnahme der Empfänglichkeit. (Jede vollkommene Selbst-
erhaltung, um dies nochmals kurz zu wiederhohlen, ist
einfach, wie das einfache Wesen, das sich selbst erhält;
denn es ist in ihr sich selbst vollkommen gleich.
Darum ist sie eine absolute Einheit, die eben so wenig
wachsen kann, als sie aus Theilen besteht. Wenn aber
ihre Bedingung, das Zusammen, nur unvollkommen ein-
tritt: dann erzeugt sie sich Anfangs in minderem Grade;
und dieser Grad kann erhöht werden, bis er der Einheit
gleich wird, nur nicht weiter. Die Möglichkeit der Er-
höhung bis zur vollen Einheit ist die in jedem Augen-
blicke noch übrige Empfänglichkeit. Das Gesetz, nach
welchem dieselbe continuirlich abnimmt, findet sich im
§. 94.)

Was in der Gesellschaft, folglich mittelbar im Staate,
altert und sich abstumpft, das ist die Empfänglichkeit für
öfter angewendete Formen der Kunst und der Wissen-
schaft. Die lebhafte, allgemeine Aufregung, welche ehe-
dem Wieland und Klopstock hervorbrachten, kann
sich auf die nämliche Weise nicht wiederhohlen. —
Wenn der Staat die neuen Eindrücke fürchtet (wie die
Alten den neuen Tonweisen der Musiker eine gefährliche
Wichtigkeit beylegten,) so kann ihn die Abstumpfung
trösten.

Kunst und Wissenschaft wirken weder so viel, als
der erste Eifer, der erste Stoſs neuer Eindrücke, zu ver-
sprechen scheint; noch so wenig, als die nachmalige
Kälte glauben macht, denn theilweise gehemmte Kräfte
wirken noch immer in dem Verhältnisse ihrer vollen Stärke,
nur ruhiger.

Wenn aber im Staate die Ungleichheit dergestalt
anwächst, daſs ganze Klassen unterdrückt werden, weil

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[35/0070] dazu ist kein Grund vorhanden. Die Einheit des Staats ist zusammengesetzt aus den Individuen, den absterben- den und heranwachsenden. Hingegen die Einheit der Seele ist die strengste, die es geben kann, und gerade daher rührt, wie am gehörigen Orte gezeigt worden, die Abnahme der Empfänglichkeit. (Jede vollkommene Selbst- erhaltung, um dies nochmals kurz zu wiederhohlen, ist einfach, wie das einfache Wesen, das sich selbst erhält; denn es ist in ihr sich selbst vollkommen gleich. Darum ist sie eine absolute Einheit, die eben so wenig wachsen kann, als sie aus Theilen besteht. Wenn aber ihre Bedingung, das Zusammen, nur unvollkommen ein- tritt: dann erzeugt sie sich Anfangs in minderem Grade; und dieser Grad kann erhöht werden, bis er der Einheit gleich wird, nur nicht weiter. Die Möglichkeit der Er- höhung bis zur vollen Einheit ist die in jedem Augen- blicke noch übrige Empfänglichkeit. Das Gesetz, nach welchem dieselbe continuirlich abnimmt, findet sich im §. 94.) Was in der Gesellschaft, folglich mittelbar im Staate, altert und sich abstumpft, das ist die Empfänglichkeit für öfter angewendete Formen der Kunst und der Wissen- schaft. Die lebhafte, allgemeine Aufregung, welche ehe- dem Wieland und Klopstock hervorbrachten, kann sich auf die nämliche Weise nicht wiederhohlen. — Wenn der Staat die neuen Eindrücke fürchtet (wie die Alten den neuen Tonweisen der Musiker eine gefährliche Wichtigkeit beylegten,) so kann ihn die Abstumpfung trösten. Kunst und Wissenschaft wirken weder so viel, als der erste Eifer, der erste Stoſs neuer Eindrücke, zu ver- sprechen scheint; noch so wenig, als die nachmalige Kälte glauben macht, denn theilweise gehemmte Kräfte wirken noch immer in dem Verhältnisse ihrer vollen Stärke, nur ruhiger. Wenn aber im Staate die Ungleichheit dergestalt anwächst, daſs ganze Klassen unterdrückt werden, weil C 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/70>, abgerufen am 24.11.2024.