seyn, wenn nicht die Beschäfftigung mit dem perpetuum mobile, welche im Irrenhause fortdauerte, der Belehrung durch Versuche und Erfahrung zugänglich geblieben wäre.
Verdient aber irgend eine Art der Geisteszerrüttung den Namen der Seelen-Krankheit; so ist es gewiss der Wahnsinn. Hier wirkt der psychologische Mechanismus, und oft nicht minder lebhaft und zusammenhängend wie beym Gesunden. Aber sein Bau ist verdorben; ein un- taugliches Rad ist in die Maschine gekommen; dadurch wird ihr Effect ein Zerrbild von dem, was er seyn sollte.
Wer seinen Lieblingsgedanken ohne Maass nach- hängt, wer seine Phantasie ein Spiel treiben lässt, das heftige Empfindungen steigert, die man bändigen sollte, wer äusseren Eindrücken sich zu sehr entzieht, und die Bekanntschaft mit der Welt verliert; wer es vernachläs- sigt, das Gewagte seiner Vermuthungen, das Ungewisse seiner Hoffnungen, zuverlässigen Thatsachen gegenüber zu stellen; wer, anstatt Erkundigungen einzuziehn, anstatt Proben anzustellen, anstatt gründliche Wissenschaft zu studiren, lieber Meinungen ausbrütet, und diesen seine Stimmung Preis giebt: der gräbt sich selbst die Grube, in welche ein leichter Zufall, der das Nervensystem schwächt, ihn hinabstossen kann. Was ist leichter, als dass eine falsche Complication von Vorstellungen sich erzeuge, nachdem die gegenwirkenden Kräfte unthätig geworden sind, vollends indem eine physiologische Hemmung dazu tritt? Die Möglichkeit hievon wurde schon vorhin erwo- gen, da von der bestimmten Art des Wahns die Rede war, bey welcher der Kranke sich eine ihm fremde Per- sönlichkeit zueignet. Die unvermeidlichen Folgen aber liegen am Tage. Wer nur nicht an die Seelenvermögen glaubt, wer z. B. nicht meint, der ganze Verstand müsse krank seyn um eines falschen Begriffes, die ganze Ur- theilskraft um eines unrichtigen Urtheils willen, das ganze Gedächtniss müsse fehlen, wo eine gewisse Reproductions- folge in ihrer Wirkung gehemmt ist, -- der sicht so- gleich ein, dass die Krankheit ursprünglich in einer be-
seyn, wenn nicht die Beschäfftigung mit dem perpetuum mobile, welche im Irrenhause fortdauerte, der Belehrung durch Versuche und Erfahrung zugänglich geblieben wäre.
Verdient aber irgend eine Art der Geisteszerrüttung den Namen der Seelen-Krankheit; so ist es gewiſs der Wahnsinn. Hier wirkt der psychologische Mechanismus, und oft nicht minder lebhaft und zusammenhängend wie beym Gesunden. Aber sein Bau ist verdorben; ein un- taugliches Rad ist in die Maschine gekommen; dadurch wird ihr Effect ein Zerrbild von dem, was er seyn sollte.
Wer seinen Lieblingsgedanken ohne Maaſs nach- hängt, wer seine Phantasie ein Spiel treiben läſst, das heftige Empfindungen steigert, die man bändigen sollte, wer äuſseren Eindrücken sich zu sehr entzieht, und die Bekanntschaft mit der Welt verliert; wer es vernachläs- sigt, das Gewagte seiner Vermuthungen, das Ungewisse seiner Hoffnungen, zuverlässigen Thatsachen gegenüber zu stellen; wer, anstatt Erkundigungen einzuziehn, anstatt Proben anzustellen, anstatt gründliche Wissenschaft zu studiren, lieber Meinungen ausbrütet, und diesen seine Stimmung Preis giebt: der gräbt sich selbst die Grube, in welche ein leichter Zufall, der das Nervensystem schwächt, ihn hinabstoſsen kann. Was ist leichter, als daſs eine falsche Complication von Vorstellungen sich erzeuge, nachdem die gegenwirkenden Kräfte unthätig geworden sind, vollends indem eine physiologische Hemmung dazu tritt? Die Möglichkeit hievon wurde schon vorhin erwo- gen, da von der bestimmten Art des Wahns die Rede war, bey welcher der Kranke sich eine ihm fremde Per- sönlichkeit zueignet. Die unvermeidlichen Folgen aber liegen am Tage. Wer nur nicht an die Seelenvermögen glaubt, wer z. B. nicht meint, der ganze Verstand müsse krank seyn um eines falschen Begriffes, die ganze Ur- theilskraft um eines unrichtigen Urtheils willen, das ganze Gedächtniſs müsse fehlen, wo eine gewisse Reproductions- folge in ihrer Wirkung gehemmt ist, — der sicht so- gleich ein, daſs die Krankheit ursprünglich in einer be-
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seyn, wenn nicht die Beschäfftigung mit dem perpetuum
mobile, welche im Irrenhause fortdauerte, der Belehrung
durch Versuche und Erfahrung zugänglich geblieben wäre.
Verdient aber irgend eine Art der Geisteszerrüttung
den Namen der Seelen-Krankheit; so ist es gewiſs der
Wahnsinn. Hier wirkt der psychologische Mechanismus,
und oft nicht minder lebhaft und zusammenhängend wie
beym Gesunden. Aber sein Bau ist verdorben; ein un-
taugliches Rad ist in die Maschine gekommen; dadurch
wird ihr Effect ein Zerrbild von dem, was er seyn sollte.
Wer seinen Lieblingsgedanken ohne Maaſs nach-
hängt, wer seine Phantasie ein Spiel treiben läſst, das
heftige Empfindungen steigert, die man bändigen sollte,
wer äuſseren Eindrücken sich zu sehr entzieht, und die
Bekanntschaft mit der Welt verliert; wer es vernachläs-
sigt, das Gewagte seiner Vermuthungen, das Ungewisse
seiner Hoffnungen, zuverlässigen Thatsachen gegenüber
zu stellen; wer, anstatt Erkundigungen einzuziehn, anstatt
Proben anzustellen, anstatt gründliche Wissenschaft zu
studiren, lieber Meinungen ausbrütet, und diesen seine
Stimmung Preis giebt: der gräbt sich selbst die Grube,
in welche ein leichter Zufall, der das Nervensystem schwächt,
ihn hinabstoſsen kann. Was ist leichter, als daſs eine
falsche Complication von Vorstellungen sich erzeuge,
nachdem die gegenwirkenden Kräfte unthätig geworden
sind, vollends indem eine physiologische Hemmung dazu
tritt? Die Möglichkeit hievon wurde schon vorhin erwo-
gen, da von der bestimmten Art des Wahns die Rede
war, bey welcher der Kranke sich eine ihm fremde Per-
sönlichkeit zueignet. Die unvermeidlichen Folgen aber
liegen am Tage. Wer nur nicht an die Seelenvermögen
glaubt, wer z. B. nicht meint, der ganze Verstand müsse
krank seyn um eines falschen Begriffes, die ganze Ur-
theilskraft um eines unrichtigen Urtheils willen, das ganze
Gedächtniſs müsse fehlen, wo eine gewisse Reproductions-
folge in ihrer Wirkung gehemmt ist, — der sicht so-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/558>, abgerufen am 21.11.2024.
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