ehrwürdigen Kant; dies beweis't alles, was man von ihm weiss. Dennoch ist sein System in einem Hauptpuncte ein Beyspiel von Unbesonnenheit; und der Beweis hie- von liegt in dem eigenthümlichen Gepräge der Philoso- phie unserer letzten Decennien. Beschäfftigt mit den Formen der Erfahrung, liess Kant die Frage nach dem Ursprunge der einfachen Empfindungen, der Materie der Erfahrung, anfangs ausser Acht; auch konnte und wollte er seine Kategorie der Ursache, die nur einen immanen- ten Gebrauch im Gebiete der Erfahrung haben sollte, nicht dazu anwenden, von den Dingen an sich zu sagen, und theoretisch zu behaupten, sie seyen die Ursachen unsrer sinnlichen Empfindungen. Dem gemäss musste von Dingen an sich bey ihm eigentlich gar nicht die Rede seyn: wie die scharfsinnigsten unter den Nachfolgern sehr bald bemerkten. Wie kam denn Kant zu der oft wie- derhohlten, und ausdrücklichen Behauptung, dass den Erscheinungen gleichwohl Verstandeswesen (Dinge an sich,) correspondiren? Seine Glaubensartikel, die um des moralischen Interesse willen angenommen wurden, führten ihn wieder in diese Gegend. So kam ein freyer, ein unsterblicher Geist, so die Ueberzeugung von Gottes waltender Weisheit, in das System. Aber auch die Dinge an sich, von denen die Sinneserscheinungen, nach Ab- zug der Form, ihren Ursprung haben sollten? Waren diese auch ein Glaubensartikel? Was konnte es dem moralischen Interesse schaden, die Materie sowohl als die Form der Erfahrung aus dem eignen Selbst entsprin- gen zu lassen? -- So fragten sich Fichte und Schel- ling beym Beginn ihrer Arbeiten, und es ist bekannt genug, dass beyde, besonders aber der erste, Anfangs hierin ihre leitende Idee fanden. Unter der damals sehr allgemein verbreiteten Voraussetzung, die Kantische Lehre sey der Hauptsache nach die wahre, glaubte Fichte den rechten Weg einzuschlagen, indem er suchte, die Kantische Philosophie von den Dingen an sich zu be- freyen. -- Und unbegreiflich würde es immer bleiben,
ehrwürdigen Kant; dies beweis’t alles, was man von ihm weiſs. Dennoch ist sein System in einem Hauptpuncte ein Beyspiel von Unbesonnenheit; und der Beweis hie- von liegt in dem eigenthümlichen Gepräge der Philoso- phie unserer letzten Decennien. Beschäfftigt mit den Formen der Erfahrung, lieſs Kant die Frage nach dem Ursprunge der einfachen Empfindungen, der Materie der Erfahrung, anfangs auſser Acht; auch konnte und wollte er seine Kategorie der Ursache, die nur einen immanen- ten Gebrauch im Gebiete der Erfahrung haben sollte, nicht dazu anwenden, von den Dingen an sich zu sagen, und theoretisch zu behaupten, sie seyen die Ursachen unsrer sinnlichen Empfindungen. Dem gemäſs muſste von Dingen an sich bey ihm eigentlich gar nicht die Rede seyn: wie die scharfsinnigsten unter den Nachfolgern sehr bald bemerkten. Wie kam denn Kant zu der oft wie- derhohlten, und ausdrücklichen Behauptung, daſs den Erscheinungen gleichwohl Verstandeswesen (Dinge an sich,) correspondiren? Seine Glaubensartikel, die um des moralischen Interesse willen angenommen wurden, führten ihn wieder in diese Gegend. So kam ein freyer, ein unsterblicher Geist, so die Ueberzeugung von Gottes waltender Weisheit, in das System. Aber auch die Dinge an sich, von denen die Sinneserscheinungen, nach Ab- zug der Form, ihren Ursprung haben sollten? Waren diese auch ein Glaubensartikel? Was konnte es dem moralischen Interesse schaden, die Materie sowohl als die Form der Erfahrung aus dem eignen Selbst entsprin- gen zu lassen? — So fragten sich Fichte und Schel- ling beym Beginn ihrer Arbeiten, und es ist bekannt genug, daſs beyde, besonders aber der erste, Anfangs hierin ihre leitende Idee fanden. Unter der damals sehr allgemein verbreiteten Voraussetzung, die Kantische Lehre sey der Hauptsache nach die wahre, glaubte Fichte den rechten Weg einzuschlagen, indem er suchte, die Kantische Philosophie von den Dingen an sich zu be- freyen. — Und unbegreiflich würde es immer bleiben,
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[506/0541]
ehrwürdigen Kant; dies beweis’t alles, was man von ihm
weiſs. Dennoch ist sein System in einem Hauptpuncte
ein Beyspiel von Unbesonnenheit; und der Beweis hie-
von liegt in dem eigenthümlichen Gepräge der Philoso-
phie unserer letzten Decennien. Beschäfftigt mit den
Formen der Erfahrung, lieſs Kant die Frage nach dem
Ursprunge der einfachen Empfindungen, der Materie der
Erfahrung, anfangs auſser Acht; auch konnte und wollte
er seine Kategorie der Ursache, die nur einen immanen-
ten Gebrauch im Gebiete der Erfahrung haben sollte,
nicht dazu anwenden, von den Dingen an sich zu sagen,
und theoretisch zu behaupten, sie seyen die Ursachen
unsrer sinnlichen Empfindungen. Dem gemäſs muſste
von Dingen an sich bey ihm eigentlich gar nicht die Rede
seyn: wie die scharfsinnigsten unter den Nachfolgern sehr
bald bemerkten. Wie kam denn Kant zu der oft wie-
derhohlten, und ausdrücklichen Behauptung, daſs den
Erscheinungen gleichwohl Verstandeswesen (Dinge an
sich,) correspondiren? Seine Glaubensartikel, die um
des moralischen Interesse willen angenommen wurden,
führten ihn wieder in diese Gegend. So kam ein freyer,
ein unsterblicher Geist, so die Ueberzeugung von Gottes
waltender Weisheit, in das System. Aber auch die Dinge
an sich, von denen die Sinneserscheinungen, nach Ab-
zug der Form, ihren Ursprung haben sollten? Waren
diese auch ein Glaubensartikel? Was konnte es dem
moralischen Interesse schaden, die Materie sowohl als
die Form der Erfahrung aus dem eignen Selbst entsprin-
gen zu lassen? — So fragten sich Fichte und Schel-
ling beym Beginn ihrer Arbeiten, und es ist bekannt
genug, daſs beyde, besonders aber der erste, Anfangs
hierin ihre leitende Idee fanden. Unter der damals sehr
allgemein verbreiteten Voraussetzung, die Kantische Lehre
sey der Hauptsache nach die wahre, glaubte Fichte
den rechten Weg einzuschlagen, indem er suchte, die
Kantische Philosophie von den Dingen an sich zu be-
freyen. — Und unbegreiflich würde es immer bleiben,
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/541>, abgerufen am 22.11.2024.
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