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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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wegungsnerven (§. 157.) für die Seele meistens unfühl-
bar zu machen. Es steht nämlich nicht bloss die Seele
mit dem Gehirn und den Nerven, sondern es steht jeder
Theil des Gehirns mit dem andern, jeder Nerv mit dem
ganzen Systeme im Causalverhältniss. Daher muss jeder
innern Thätigkeit in Einem Elemente auch eine zugehö-
rige in jedem andern Elemente des ganzen Systems ent-
sprechen. Finden aber diese zugehörigen Thätigkeiten
Hindernisse in den schon vorhandenen innern oder äu-
sseren Zuständen der Elemente, in welchen sie vor sich
gehn sollten, so müssen sie dadurch schon in ihrem Ur-
sprunge, und mehr noch in ihrer Verbreitung geschwächt
werden. Demnach wird die Dicke und Ausbreitung der
übergeschlagenen Markblätter des Gehirns, indem sie die
Menge der Elemente vermehrt, welchen jede Action der
Nerven muss mitgetheilt werden, auch zur Dämpfung, zur
Milderung dieser Actionen dienen können; sie wird gleich-
sam ihren Ungestüm auffangen, dass er die Seele nur
wenig oder gar nicht treffe und störe.

So hätte demnach die Seele in der Grösse des Ge-
hirns ihren Schutz und Schirm wider die Anfälle des
übrigen Organismus, der sonst die Gewalt, welche er
von der Aussenwelt leidet, sammt der Thätigkeit, in die
er sich dadurch versetzt findet, immerfort die Seele würde
entgelten und empfinden lassen. Das Gehirn ist frey von
unmittelbarer Affection durch die Aussenwelt; es ist weich
und nachgiebig gegen die Blutströme, die sich in das-
selbe ergiessen; es ist nicht zu heftigen Bewegungen,
nicht zu unentbehrlichen Lebensfunctionen gebauet. Da-
her bietet es der denkenden Seele eine ruhige Wohnung
dar; eine weite und überflüssig geräumige Wohnung!
Das letztere sicht man aus den Erfahrungen, nach wel-
chen beträchtliche Theile der Gehirnmasse konnten hin-
weggenommen werden, ohne einen plötzlich auffallenden
Schaden für das geistige Leben.

Wie anders mag es um die Seele der Insecten stehn,
bey welchen die Ganglien, die im Körper vertheilt vor-

wegungsnerven (§. 157.) für die Seele meistens unfühl-
bar zu machen. Es steht nämlich nicht bloſs die Seele
mit dem Gehirn und den Nerven, sondern es steht jeder
Theil des Gehirns mit dem andern, jeder Nerv mit dem
ganzen Systeme im Causalverhältniſs. Daher muſs jeder
innern Thätigkeit in Einem Elemente auch eine zugehö-
rige in jedem andern Elemente des ganzen Systems ent-
sprechen. Finden aber diese zugehörigen Thätigkeiten
Hindernisse in den schon vorhandenen innern oder äu-
ſseren Zuständen der Elemente, in welchen sie vor sich
gehn sollten, so müssen sie dadurch schon in ihrem Ur-
sprunge, und mehr noch in ihrer Verbreitung geschwächt
werden. Demnach wird die Dicke und Ausbreitung der
übergeschlagenen Markblätter des Gehirns, indem sie die
Menge der Elemente vermehrt, welchen jede Action der
Nerven muſs mitgetheilt werden, auch zur Dämpfung, zur
Milderung dieser Actionen dienen können; sie wird gleich-
sam ihren Ungestüm auffangen, daſs er die Seele nur
wenig oder gar nicht treffe und störe.

So hätte demnach die Seele in der Gröſse des Ge-
hirns ihren Schutz und Schirm wider die Anfälle des
übrigen Organismus, der sonst die Gewalt, welche er
von der Auſsenwelt leidet, sammt der Thätigkeit, in die
er sich dadurch versetzt findet, immerfort die Seele würde
entgelten und empfinden lassen. Das Gehirn ist frey von
unmittelbarer Affection durch die Auſsenwelt; es ist weich
und nachgiebig gegen die Blutströme, die sich in das-
selbe ergieſsen; es ist nicht zu heftigen Bewegungen,
nicht zu unentbehrlichen Lebensfunctionen gebauet. Da-
her bietet es der denkenden Seele eine ruhige Wohnung
dar; eine weite und überflüssig geräumige Wohnung!
Das letztere sicht man aus den Erfahrungen, nach wel-
chen beträchtliche Theile der Gehirnmasse konnten hin-
weggenommen werden, ohne einen plötzlich auffallenden
Schaden für das geistige Leben.

Wie anders mag es um die Seele der Insecten stehn,
bey welchen die Ganglien, die im Körper vertheilt vor-

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[485/0520] wegungsnerven (§. 157.) für die Seele meistens unfühl- bar zu machen. Es steht nämlich nicht bloſs die Seele mit dem Gehirn und den Nerven, sondern es steht jeder Theil des Gehirns mit dem andern, jeder Nerv mit dem ganzen Systeme im Causalverhältniſs. Daher muſs jeder innern Thätigkeit in Einem Elemente auch eine zugehö- rige in jedem andern Elemente des ganzen Systems ent- sprechen. Finden aber diese zugehörigen Thätigkeiten Hindernisse in den schon vorhandenen innern oder äu- ſseren Zuständen der Elemente, in welchen sie vor sich gehn sollten, so müssen sie dadurch schon in ihrem Ur- sprunge, und mehr noch in ihrer Verbreitung geschwächt werden. Demnach wird die Dicke und Ausbreitung der übergeschlagenen Markblätter des Gehirns, indem sie die Menge der Elemente vermehrt, welchen jede Action der Nerven muſs mitgetheilt werden, auch zur Dämpfung, zur Milderung dieser Actionen dienen können; sie wird gleich- sam ihren Ungestüm auffangen, daſs er die Seele nur wenig oder gar nicht treffe und störe. So hätte demnach die Seele in der Gröſse des Ge- hirns ihren Schutz und Schirm wider die Anfälle des übrigen Organismus, der sonst die Gewalt, welche er von der Auſsenwelt leidet, sammt der Thätigkeit, in die er sich dadurch versetzt findet, immerfort die Seele würde entgelten und empfinden lassen. Das Gehirn ist frey von unmittelbarer Affection durch die Auſsenwelt; es ist weich und nachgiebig gegen die Blutströme, die sich in das- selbe ergieſsen; es ist nicht zu heftigen Bewegungen, nicht zu unentbehrlichen Lebensfunctionen gebauet. Da- her bietet es der denkenden Seele eine ruhige Wohnung dar; eine weite und überflüssig geräumige Wohnung! Das letztere sicht man aus den Erfahrungen, nach wel- chen beträchtliche Theile der Gehirnmasse konnten hin- weggenommen werden, ohne einen plötzlich auffallenden Schaden für das geistige Leben. Wie anders mag es um die Seele der Insecten stehn, bey welchen die Ganglien, die im Körper vertheilt vor-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/520>, abgerufen am 22.11.2024.