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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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sie gar nicht, denn sie sind in den Elementen, sowohl
wie die Vorstellungen in der Seele. Und wenn Reil
weiter fragt, was zu ihnen hinzukomme, damit sie sicht-
bar werden, so bietet sich sogleich die Antwort dar, sie
verwandeln sich durch ihre Gegensätze gerade so in stre-
bende Kräfte
, wie die Vorstellungen der Seele nach
den ersten Grundsätzen der Statik des Geistes. Man
sieht also, dass auf allen Fall diese Ansicht sich würde zu
einer Theorie ausbilden lassen, die immer noch besser
wäre, als die meisten Einfälle, denen sich die Physiolo-
gen, wohl gar in der Einbildung, sie hätten philosophirt,
Preis zu geben pflegen.

Allein aus diesen Voraussetzungen folgt zuviel, und
eben darum wenig oder Nichts. Die Fälle, wo ein Sin-
nesorgan sich in dem Zustande befindet, dass ohne An-
stoss von aussen dennoch seine Elemente sich auf eben
die Art selbst erhalten, wie sie es im Wahrnehmen thun,
und daher auch die Seele durch die Einbildung eines
Wahrgenommenen täuschen, -- diese Fälle kommen
selten einmal vor, nämlich als kranke Zustände. Das
Ohr ist krank, wenn es von selbst singt; das Auge ist
angegriffen, wenn es nach allzustarkem Lichte die be-
kannten nachbleibenden Spectra sieht; der Nerve leidet,
der den Schmerz in einem schon amputirten Gliede nach-
ahmt. Dies alles nun, und noch viel mehreres der Art,
müssten nicht selten einmal die kranken, sondern unauf-
hörlich die gesunden Organe bewirken; sie müssten uns
stets in einem, der Wahrnehmung nahe kommenden Zu-
stande, -- wie in einem lebhaften Traume, -- erhalten,
sie müssten bey allen neuen Wahrnehmungen ihre Re-
miniscenzen einschieben; wodurch die Erschleichungsfeh-
ler bey allen Erfahrungen ins Ungeheure anwachsen wür-
den, indem nicht bloss die Seele, sondern die sämmtli-
chen Elementar-Bestandtheile der Sinnesnerven zu die-
sem Erschleichen beytrügen! Dagegen würde es auf die-
sem Wege gar nicht schwer halten, dass ein animali-
sches Wesen zu einer gewissen Stufe geistiger Bildung

sie gar nicht, denn sie sind in den Elementen, sowohl
wie die Vorstellungen in der Seele. Und wenn Reil
weiter fragt, was zu ihnen hinzukomme, damit sie sicht-
bar werden, so bietet sich sogleich die Antwort dar, sie
verwandeln sich durch ihre Gegensätze gerade so in stre-
bende Kräfte
, wie die Vorstellungen der Seele nach
den ersten Grundsätzen der Statik des Geistes. Man
sieht also, daſs auf allen Fall diese Ansicht sich würde zu
einer Theorie ausbilden lassen, die immer noch besser
wäre, als die meisten Einfälle, denen sich die Physiolo-
gen, wohl gar in der Einbildung, sie hätten philosophirt,
Preis zu geben pflegen.

Allein aus diesen Voraussetzungen folgt zuviel, und
eben darum wenig oder Nichts. Die Fälle, wo ein Sin-
nesorgan sich in dem Zustande befindet, daſs ohne An-
stoſs von auſsen dennoch seine Elemente sich auf eben
die Art selbst erhalten, wie sie es im Wahrnehmen thun,
und daher auch die Seele durch die Einbildung eines
Wahrgenommenen täuschen, — diese Fälle kommen
selten einmal vor, nämlich als kranke Zustände. Das
Ohr ist krank, wenn es von selbst singt; das Auge ist
angegriffen, wenn es nach allzustarkem Lichte die be-
kannten nachbleibenden Spectra sieht; der Nerve leidet,
der den Schmerz in einem schon amputirten Gliede nach-
ahmt. Dies alles nun, und noch viel mehreres der Art,
müſsten nicht selten einmal die kranken, sondern unauf-
hörlich die gesunden Organe bewirken; sie müſsten uns
stets in einem, der Wahrnehmung nahe kommenden Zu-
stande, — wie in einem lebhaften Traume, — erhalten,
sie müſsten bey allen neuen Wahrnehmungen ihre Re-
miniscenzen einschieben; wodurch die Erschleichungsfeh-
ler bey allen Erfahrungen ins Ungeheure anwachsen wür-
den, indem nicht bloſs die Seele, sondern die sämmtli-
chen Elementar-Bestandtheile der Sinnesnerven zu die-
sem Erschleichen beytrügen! Dagegen würde es auf die-
sem Wege gar nicht schwer halten, daſs ein animali-
sches Wesen zu einer gewissen Stufe geistiger Bildung

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[477/0512] sie gar nicht, denn sie sind in den Elementen, sowohl wie die Vorstellungen in der Seele. Und wenn Reil weiter fragt, was zu ihnen hinzukomme, damit sie sicht- bar werden, so bietet sich sogleich die Antwort dar, sie verwandeln sich durch ihre Gegensätze gerade so in stre- bende Kräfte, wie die Vorstellungen der Seele nach den ersten Grundsätzen der Statik des Geistes. Man sieht also, daſs auf allen Fall diese Ansicht sich würde zu einer Theorie ausbilden lassen, die immer noch besser wäre, als die meisten Einfälle, denen sich die Physiolo- gen, wohl gar in der Einbildung, sie hätten philosophirt, Preis zu geben pflegen. Allein aus diesen Voraussetzungen folgt zuviel, und eben darum wenig oder Nichts. Die Fälle, wo ein Sin- nesorgan sich in dem Zustande befindet, daſs ohne An- stoſs von auſsen dennoch seine Elemente sich auf eben die Art selbst erhalten, wie sie es im Wahrnehmen thun, und daher auch die Seele durch die Einbildung eines Wahrgenommenen täuschen, — diese Fälle kommen selten einmal vor, nämlich als kranke Zustände. Das Ohr ist krank, wenn es von selbst singt; das Auge ist angegriffen, wenn es nach allzustarkem Lichte die be- kannten nachbleibenden Spectra sieht; der Nerve leidet, der den Schmerz in einem schon amputirten Gliede nach- ahmt. Dies alles nun, und noch viel mehreres der Art, müſsten nicht selten einmal die kranken, sondern unauf- hörlich die gesunden Organe bewirken; sie müſsten uns stets in einem, der Wahrnehmung nahe kommenden Zu- stande, — wie in einem lebhaften Traume, — erhalten, sie müſsten bey allen neuen Wahrnehmungen ihre Re- miniscenzen einschieben; wodurch die Erschleichungsfeh- ler bey allen Erfahrungen ins Ungeheure anwachsen wür- den, indem nicht bloſs die Seele, sondern die sämmtli- chen Elementar-Bestandtheile der Sinnesnerven zu die- sem Erschleichen beytrügen! Dagegen würde es auf die- sem Wege gar nicht schwer halten, daſs ein animali- sches Wesen zu einer gewissen Stufe geistiger Bildung

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/512>, abgerufen am 24.11.2024.