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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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dürften wir wohl fragen, wie denn die in allen Gliedern
verbreitete Seele, welcher Herr Reil den Vorzug giebt,
beym Wahnsinnigen, beym Cretin vollends, so sehr krank
seyn könne, ohne das Leben und selbst ohne die Kör-
perkräfte eines solchen Menschen merklich anzufechten?
Wir haben noch nie gehört, dass eine kranke Lunge,
ein krankes Herz, ein kranker Magen, oder nur eine
kranke Gallenblase, so unbedeutend sey für das Leben,
wie die kranke Seele. Selbst ein Geschwür an der Fuss-
sohle, ja ein verletzter Nagel am Finger, kann durch
Brand den ganzen Körper tödten; aber mit seinen Ket-
ten mag immerhin der Rasende klirren und toben; die
Sorge ist nicht gross, dass er davon sterbe.

Es wird also wohl dabey bleiben, dass die Seele nur
ein Einwohner des übrigens sich selbst genügenden Lei-
bes ist; welchem Einwohner bloss zum Danke für die
mancherley Dienste, die ihm geleistet werden, obliegt,
einige Geschäffte zur äussern Unterstützung des Lebens,
insbesondre die Aufsuchung der Nahrung zu übernehmen.
Und daraus folgt denn, dass die psychischen Erklärun-
gen in Eine Klasse fallen mit den Erklärungen durch
fremdartige Potenzen. Eine Krankheit, welche die Seele,
etwa durch Leidenschaften, durch Verdruss und Kummer,
verursacht, wird gleichen einer durch Erkältung oder Er-
stickung herbeygeführten; denn die Verknüpfung zwischen
Seele und Leib ist nur um weniges enger (wenn gleich
beständiger,) als die zwischen dem Leibe und der
Luft, die er athmet, oder der freyen Wärme, die seine
Haut unmittelbar umgiebt. Es ist sehr gewiss, dass der
Leib auf die nächste Atmosphäre und auf deren Tempe-
ratur entscheidend wirkt, und von ihr Wirkungen erlei-
det; und so haben wir auch noch keinen lebendigen Leib
gesehen, von dem wir bestimmt hätten behaupten dürfen,
dass ihm die Seele gänzlich mangele, oder gar nicht
in ihn wirke. Aber man sollte besser überlegen, wie we-
nig in manchen Fällen an diesem Gänzlich fehle!

Schon oben haben wir von der Art der gegenseitigen

dürften wir wohl fragen, wie denn die in allen Gliedern
verbreitete Seele, welcher Herr Reil den Vorzug giebt,
beym Wahnsinnigen, beym Cretin vollends, so sehr krank
seyn könne, ohne das Leben und selbst ohne die Kör-
perkräfte eines solchen Menschen merklich anzufechten?
Wir haben noch nie gehört, daſs eine kranke Lunge,
ein krankes Herz, ein kranker Magen, oder nur eine
kranke Gallenblase, so unbedeutend sey für das Leben,
wie die kranke Seele. Selbst ein Geschwür an der Fuſs-
sohle, ja ein verletzter Nagel am Finger, kann durch
Brand den ganzen Körper tödten; aber mit seinen Ket-
ten mag immerhin der Rasende klirren und toben; die
Sorge ist nicht groſs, daſs er davon sterbe.

Es wird also wohl dabey bleiben, daſs die Seele nur
ein Einwohner des übrigens sich selbst genügenden Lei-
bes ist; welchem Einwohner bloſs zum Danke für die
mancherley Dienste, die ihm geleistet werden, obliegt,
einige Geschäffte zur äuſsern Unterstützung des Lebens,
insbesondre die Aufsuchung der Nahrung zu übernehmen.
Und daraus folgt denn, daſs die psychischen Erklärun-
gen in Eine Klasse fallen mit den Erklärungen durch
fremdartige Potenzen. Eine Krankheit, welche die Seele,
etwa durch Leidenschaften, durch Verdruſs und Kummer,
verursacht, wird gleichen einer durch Erkältung oder Er-
stickung herbeygeführten; denn die Verknüpfung zwischen
Seele und Leib ist nur um weniges enger (wenn gleich
beständiger,) als die zwischen dem Leibe und der
Luft, die er athmet, oder der freyen Wärme, die seine
Haut unmittelbar umgiebt. Es ist sehr gewiſs, daſs der
Leib auf die nächste Atmosphäre und auf deren Tempe-
ratur entscheidend wirkt, und von ihr Wirkungen erlei-
det; und so haben wir auch noch keinen lebendigen Leib
gesehen, von dem wir bestimmt hätten behaupten dürfen,
daſs ihm die Seele gänzlich mangele, oder gar nicht
in ihn wirke. Aber man sollte besser überlegen, wie we-
nig in manchen Fällen an diesem Gänzlich fehle!

Schon oben haben wir von der Art der gegenseitigen

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[472/0507] dürften wir wohl fragen, wie denn die in allen Gliedern verbreitete Seele, welcher Herr Reil den Vorzug giebt, beym Wahnsinnigen, beym Cretin vollends, so sehr krank seyn könne, ohne das Leben und selbst ohne die Kör- perkräfte eines solchen Menschen merklich anzufechten? Wir haben noch nie gehört, daſs eine kranke Lunge, ein krankes Herz, ein kranker Magen, oder nur eine kranke Gallenblase, so unbedeutend sey für das Leben, wie die kranke Seele. Selbst ein Geschwür an der Fuſs- sohle, ja ein verletzter Nagel am Finger, kann durch Brand den ganzen Körper tödten; aber mit seinen Ket- ten mag immerhin der Rasende klirren und toben; die Sorge ist nicht groſs, daſs er davon sterbe. Es wird also wohl dabey bleiben, daſs die Seele nur ein Einwohner des übrigens sich selbst genügenden Lei- bes ist; welchem Einwohner bloſs zum Danke für die mancherley Dienste, die ihm geleistet werden, obliegt, einige Geschäffte zur äuſsern Unterstützung des Lebens, insbesondre die Aufsuchung der Nahrung zu übernehmen. Und daraus folgt denn, daſs die psychischen Erklärun- gen in Eine Klasse fallen mit den Erklärungen durch fremdartige Potenzen. Eine Krankheit, welche die Seele, etwa durch Leidenschaften, durch Verdruſs und Kummer, verursacht, wird gleichen einer durch Erkältung oder Er- stickung herbeygeführten; denn die Verknüpfung zwischen Seele und Leib ist nur um weniges enger (wenn gleich beständiger,) als die zwischen dem Leibe und der Luft, die er athmet, oder der freyen Wärme, die seine Haut unmittelbar umgiebt. Es ist sehr gewiſs, daſs der Leib auf die nächste Atmosphäre und auf deren Tempe- ratur entscheidend wirkt, und von ihr Wirkungen erlei- det; und so haben wir auch noch keinen lebendigen Leib gesehen, von dem wir bestimmt hätten behaupten dürfen, daſs ihm die Seele gänzlich mangele, oder gar nicht in ihn wirke. Aber man sollte besser überlegen, wie we- nig in manchen Fällen an diesem Gänzlich fehle! Schon oben haben wir von der Art der gegenseitigen

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/507>, abgerufen am 26.11.2024.