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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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dieses öffentlich zu lehren anfing. Zeit genug in der
That, damit man sich hätte besinnen können, dass wirk-
lich die menschlichen Angelegenheiten, so fern sie über-
haupt durch Ueberlegung in Ordnung gehalten werden,
von zweyerley Beurtheilungen, der theoretischen und der
ästhetischen, abhängen, die unter einander nicht streiten,
weil sie sich ursprünglich fremdartig sind, von dem Men-
schen aber fortwährend, so gut es gehn will, oder so
gut er es versteht, mit einander verknüpft werden. Aber
wie man sich einbildet, die Staaten könnten garantirt
werden durch Verfassungen, obgleich die Verfassungen
nichts anders sind als das, was die Sitte aus ihnen macht:
so sucht man auch bis auf den heutigen Tag die Frey-
heit mit der Nothwendigkeit zu vereinigen, hoffend, es
werde irgend einmal durch schöne und kluge Worte ge-
lingen, den wohlbekannten Widerspruch zwischen bey-
den dahin zu bringen, dass er aufhöre, ein Widerspruch
zu seyn.

-- exspectant, dum defluat amnis: at ille
Labitur et labetur in omne volubilis aevum.

Und warum warten sie? Wegen eines Gespenstes
von Zurechnung. Hätten sie jemals überlegt, was Zu-
rechnung sey? so würden sie gefunden haben, dass ge-
rade die transscendentale Freyheit unfähig ist, das Sub-
ject derselben darzubieten. Denn Handlungen werden
zugerechnet, wenn man einen Willen betrachtet, als
durch sie charakterisirt. Die transscendentale Freyheit
kann aber gar nichts annehmen, das man Charakter nen-
nen dürfte. Sie ist, was sie auch thue, allemal der zu-
reichende Grund der gleich möglichen, gerade entgegen-
gesetzten Handlung. Ist ein Wille charakterisirt: so ist
durch ihn nur Einerley, und nicht zugleich das Gegen-
theil möglich; darin besteht sein positiver oder negativer
Werth. Der nicht-charakterisirte hat gar keinen Werth;
denn er hat für jede Gelegenheit des Handelns zwey ent-
gegengesetzte Möglichkeiten, welche durch ein Thun ohne

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dieses öffentlich zu lehren anfing. Zeit genug in der
That, damit man sich hätte besinnen können, daſs wirk-
lich die menschlichen Angelegenheiten, so fern sie über-
haupt durch Ueberlegung in Ordnung gehalten werden,
von zweyerley Beurtheilungen, der theoretischen und der
ästhetischen, abhängen, die unter einander nicht streiten,
weil sie sich ursprünglich fremdartig sind, von dem Men-
schen aber fortwährend, so gut es gehn will, oder so
gut er es versteht, mit einander verknüpft werden. Aber
wie man sich einbildet, die Staaten könnten garantirt
werden durch Verfassungen, obgleich die Verfassungen
nichts anders sind als das, was die Sitte aus ihnen macht:
so sucht man auch bis auf den heutigen Tag die Frey-
heit mit der Nothwendigkeit zu vereinigen, hoffend, es
werde irgend einmal durch schöne und kluge Worte ge-
lingen, den wohlbekannten Widerspruch zwischen bey-
den dahin zu bringen, daſs er aufhöre, ein Widerspruch
zu seyn.

— exspectant, dum defluat amnis: at ille
Labitur et labetur in omne volubilis aevum.

Und warum warten sie? Wegen eines Gespenstes
von Zurechnung. Hätten sie jemals überlegt, was Zu-
rechnung sey? so würden sie gefunden haben, daſs ge-
rade die transscendentale Freyheit unfähig ist, das Sub-
ject derselben darzubieten. Denn Handlungen werden
zugerechnet, wenn man einen Willen betrachtet, als
durch sie charakterisirt. Die transscendentale Freyheit
kann aber gar nichts annehmen, das man Charakter nen-
nen dürfte. Sie ist, was sie auch thue, allemal der zu-
reichende Grund der gleich möglichen, gerade entgegen-
gesetzten Handlung. Ist ein Wille charakterisirt: so ist
durch ihn nur Einerley, und nicht zugleich das Gegen-
theil möglich; darin besteht sein positiver oder negativer
Werth. Der nicht-charakterisirte hat gar keinen Werth;
denn er hat für jede Gelegenheit des Handelns zwey ent-
gegengesetzte Möglichkeiten, welche durch ein Thun ohne

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[451/0486] dieses öffentlich zu lehren anfing. Zeit genug in der That, damit man sich hätte besinnen können, daſs wirk- lich die menschlichen Angelegenheiten, so fern sie über- haupt durch Ueberlegung in Ordnung gehalten werden, von zweyerley Beurtheilungen, der theoretischen und der ästhetischen, abhängen, die unter einander nicht streiten, weil sie sich ursprünglich fremdartig sind, von dem Men- schen aber fortwährend, so gut es gehn will, oder so gut er es versteht, mit einander verknüpft werden. Aber wie man sich einbildet, die Staaten könnten garantirt werden durch Verfassungen, obgleich die Verfassungen nichts anders sind als das, was die Sitte aus ihnen macht: so sucht man auch bis auf den heutigen Tag die Frey- heit mit der Nothwendigkeit zu vereinigen, hoffend, es werde irgend einmal durch schöne und kluge Worte ge- lingen, den wohlbekannten Widerspruch zwischen bey- den dahin zu bringen, daſs er aufhöre, ein Widerspruch zu seyn. — exspectant, dum defluat amnis: at ille Labitur et labetur in omne volubilis aevum. Und warum warten sie? Wegen eines Gespenstes von Zurechnung. Hätten sie jemals überlegt, was Zu- rechnung sey? so würden sie gefunden haben, daſs ge- rade die transscendentale Freyheit unfähig ist, das Sub- ject derselben darzubieten. Denn Handlungen werden zugerechnet, wenn man einen Willen betrachtet, als durch sie charakterisirt. Die transscendentale Freyheit kann aber gar nichts annehmen, das man Charakter nen- nen dürfte. Sie ist, was sie auch thue, allemal der zu- reichende Grund der gleich möglichen, gerade entgegen- gesetzten Handlung. Ist ein Wille charakterisirt: so ist durch ihn nur Einerley, und nicht zugleich das Gegen- theil möglich; darin besteht sein positiver oder negativer Werth. Der nicht-charakterisirte hat gar keinen Werth; denn er hat für jede Gelegenheit des Handelns zwey ent- gegengesetzte Möglichkeiten, welche durch ein Thun ohne F f 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/486>, abgerufen am 22.11.2024.