sehen stehn möge. Denn das Factum des Gebietens ist alsdann das Factum des absoluten Anfangens.
Was mag denn wohl die reine Vernunft zu gebie- ten haben? Weiss sie denn schon etwas von dem, was in der Welt kann ausgeführt oder auch nur versucht werden? Wem gebietet sie denn, ehe sie wenigstens das innere Phänomen des Begehrens und Wollens, (wel- ches übrigens sich allemal auf gegebene Gegenstände bezieht,) aus der Erfahrung kennen gelernt hat?
"Sie sucht das Ich durchzusetzen, wider alles Nicht- Ich," antwortete Fichte, der wohl bemerkte, dass sich Kants kategorischer Imperativ beziehe auf Maximen, welche Maximen sich beziehn auf ein vorausgesetztes Wollen, welches Wollen wiederum nicht denkbar wäre ohne die schon als bekannt vorausgesetzten sinnlichen Gegenstände; so dass die reine Vernunft, ohne alle diese empirischen Voraussetzungen, zum blossen Gedanken- dinge herabsinken, und das Factum des absolut-anfan- genden, d. h. freyen Gebietens, damit verschwinden würde.
Darum zog Fichte die ganze Natur in die Sitten- lehre hinein; und er musste so verfahren, wenn Kants Anfänge sollten beybehalten werden. Wer das nicht ein- sieht, der kennt die neuere Geschichte der Philosophie bloss historisch, und klebt am Buchstaben Kants.
Die Natur war nun, wider die Meinung Kants, der Freyheit geopfert; und die Welt nach idealistischer Weise auf den Kopf gestellt. -- Dass es so nicht blei- ben konnte, verstand sich von selbst. Man hätte nicht nöthig gehabt, den Spinoza herbeyzuhohlen; und man lernte von ihm nicht einmal das, was er lehren konnte; nämlich: dass, wer mit der Natur anfängt, der auch mit der Natur endigen muss; dass man folglich die Sittenlehre, damit sie nicht auf jene Freyheit, jenes absolut anfan- gende Gebieten, hinführe, auch nicht als ursprüngliche Pflichtenlehre behandeln muss; dass man vielmehr der Wahrheit um einen guten Schritt näher kommt, wenn
II. F f
sehen stehn möge. Denn das Factum des Gebietens ist alsdann das Factum des absoluten Anfangens.
Was mag denn wohl die reine Vernunft zu gebie- ten haben? Weiſs sie denn schon etwas von dem, was in der Welt kann ausgeführt oder auch nur versucht werden? Wem gebietet sie denn, ehe sie wenigstens das innere Phänomen des Begehrens und Wollens, (wel- ches übrigens sich allemal auf gegebene Gegenstände bezieht,) aus der Erfahrung kennen gelernt hat?
„Sie sucht das Ich durchzusetzen, wider alles Nicht- Ich,“ antwortete Fichte, der wohl bemerkte, daſs sich Kants kategorischer Imperativ beziehe auf Maximen, welche Maximen sich beziehn auf ein vorausgesetztes Wollen, welches Wollen wiederum nicht denkbar wäre ohne die schon als bekannt vorausgesetzten sinnlichen Gegenstände; so daſs die reine Vernunft, ohne alle diese empirischen Voraussetzungen, zum bloſsen Gedanken- dinge herabsinken, und das Factum des absolut-anfan- genden, d. h. freyen Gebietens, damit verschwinden würde.
Darum zog Fichte die ganze Natur in die Sitten- lehre hinein; und er muſste so verfahren, wenn Kants Anfänge sollten beybehalten werden. Wer das nicht ein- sieht, der kennt die neuere Geschichte der Philosophie bloſs historisch, und klebt am Buchstaben Kants.
Die Natur war nun, wider die Meinung Kants, der Freyheit geopfert; und die Welt nach idealistischer Weise auf den Kopf gestellt. — Daſs es so nicht blei- ben konnte, verstand sich von selbst. Man hätte nicht nöthig gehabt, den Spinoza herbeyzuhohlen; und man lernte von ihm nicht einmal das, was er lehren konnte; nämlich: daſs, wer mit der Natur anfängt, der auch mit der Natur endigen muſs; daſs man folglich die Sittenlehre, damit sie nicht auf jene Freyheit, jenes absolut anfan- gende Gebieten, hinführe, auch nicht als ursprüngliche Pflichtenlehre behandeln muſs; daſs man vielmehr der Wahrheit um einen guten Schritt näher kommt, wenn
II. F f
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0484"n="449"/>
sehen stehn möge. Denn das Factum des Gebietens ist<lb/>
alsdann das Factum des absoluten Anfangens.</p><lb/><p><hirendition="#g">Was</hi> mag denn wohl die reine Vernunft zu gebie-<lb/>
ten haben? Weiſs sie denn schon etwas von dem, was<lb/>
in der Welt kann ausgeführt oder auch nur versucht<lb/>
werden? <hirendition="#g">Wem</hi> gebietet sie denn, ehe sie wenigstens<lb/>
das innere Phänomen des Begehrens und Wollens, (wel-<lb/>
ches übrigens sich allemal auf <hirendition="#g">gegebene</hi> Gegenstände<lb/>
bezieht,) aus der Erfahrung kennen gelernt hat?</p><lb/><p>„Sie sucht das Ich durchzusetzen, wider alles Nicht-<lb/>
Ich,“ antwortete <hirendition="#g">Fichte</hi>, der wohl bemerkte, daſs sich<lb/><hirendition="#g">Kants</hi> kategorischer Imperativ beziehe auf Maximen,<lb/>
welche Maximen sich beziehn auf ein vorausgesetztes<lb/>
Wollen, welches Wollen wiederum nicht denkbar wäre<lb/>
ohne die schon als bekannt vorausgesetzten sinnlichen<lb/>
Gegenstände; so daſs die reine Vernunft, ohne alle diese<lb/>
empirischen Voraussetzungen, zum bloſsen Gedanken-<lb/>
dinge herabsinken, und das Factum des absolut-anfan-<lb/>
genden, d. h. freyen Gebietens, damit verschwinden<lb/>
würde.</p><lb/><p>Darum zog <hirendition="#g">Fichte</hi> die ganze Natur in die Sitten-<lb/>
lehre hinein; und er <hirendition="#g">muſste</hi> so verfahren, wenn <hirendition="#g">Kants</hi><lb/>
Anfänge sollten beybehalten werden. Wer das nicht ein-<lb/>
sieht, der kennt die neuere Geschichte der Philosophie<lb/>
bloſs historisch, und klebt am Buchstaben <hirendition="#g">Kants</hi>.</p><lb/><p>Die Natur war nun, wider die Meinung <hirendition="#g">Kants</hi>, der<lb/>
Freyheit geopfert; und die Welt nach idealistischer<lb/>
Weise auf den Kopf gestellt. — Daſs es so nicht blei-<lb/>
ben konnte, verstand sich von selbst. Man hätte nicht<lb/>
nöthig gehabt, den Spinoza herbeyzuhohlen; und man<lb/>
lernte von ihm nicht einmal das, was er lehren konnte;<lb/>
nämlich: daſs, wer mit der Natur anfängt, der auch mit<lb/>
der Natur endigen muſs; daſs man folglich die Sittenlehre,<lb/>
damit sie nicht auf jene Freyheit, jenes absolut anfan-<lb/>
gende Gebieten, hinführe, auch nicht als ursprüngliche<lb/>
Pflichtenlehre behandeln muſs; daſs man vielmehr der<lb/>
Wahrheit um einen guten Schritt näher kommt, wenn<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#i">II.</hi> F f</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[449/0484]
sehen stehn möge. Denn das Factum des Gebietens ist
alsdann das Factum des absoluten Anfangens.
Was mag denn wohl die reine Vernunft zu gebie-
ten haben? Weiſs sie denn schon etwas von dem, was
in der Welt kann ausgeführt oder auch nur versucht
werden? Wem gebietet sie denn, ehe sie wenigstens
das innere Phänomen des Begehrens und Wollens, (wel-
ches übrigens sich allemal auf gegebene Gegenstände
bezieht,) aus der Erfahrung kennen gelernt hat?
„Sie sucht das Ich durchzusetzen, wider alles Nicht-
Ich,“ antwortete Fichte, der wohl bemerkte, daſs sich
Kants kategorischer Imperativ beziehe auf Maximen,
welche Maximen sich beziehn auf ein vorausgesetztes
Wollen, welches Wollen wiederum nicht denkbar wäre
ohne die schon als bekannt vorausgesetzten sinnlichen
Gegenstände; so daſs die reine Vernunft, ohne alle diese
empirischen Voraussetzungen, zum bloſsen Gedanken-
dinge herabsinken, und das Factum des absolut-anfan-
genden, d. h. freyen Gebietens, damit verschwinden
würde.
Darum zog Fichte die ganze Natur in die Sitten-
lehre hinein; und er muſste so verfahren, wenn Kants
Anfänge sollten beybehalten werden. Wer das nicht ein-
sieht, der kennt die neuere Geschichte der Philosophie
bloſs historisch, und klebt am Buchstaben Kants.
Die Natur war nun, wider die Meinung Kants, der
Freyheit geopfert; und die Welt nach idealistischer
Weise auf den Kopf gestellt. — Daſs es so nicht blei-
ben konnte, verstand sich von selbst. Man hätte nicht
nöthig gehabt, den Spinoza herbeyzuhohlen; und man
lernte von ihm nicht einmal das, was er lehren konnte;
nämlich: daſs, wer mit der Natur anfängt, der auch mit
der Natur endigen muſs; daſs man folglich die Sittenlehre,
damit sie nicht auf jene Freyheit, jenes absolut anfan-
gende Gebieten, hinführe, auch nicht als ursprüngliche
Pflichtenlehre behandeln muſs; daſs man vielmehr der
Wahrheit um einen guten Schritt näher kommt, wenn
II. F f
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/484>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.