keit und die Wandelbarkeit grösser. Schon für die Mo- ralität giebt es nicht bloss eine einzige, gleichmässig in sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloss eine, sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher grosse Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte, Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält- nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son- derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen, traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le- bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er- scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor- stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth, sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total- Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese Summe auf einmal im Bewusstseyn, sondern abwechselnd steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist. So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt, die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht die Bemerkung, dass die Mittelwelt, das heisst, die blei- benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich nun bald deutlicher zeigen wird.
Anmerkung.
Man erwartet vielleicht, dass ich hier am Ende noch etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein
keit und die Wandelbarkeit gröſser. Schon für die Mo- ralität giebt es nicht bloſs eine einzige, gleichmäſsig in sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloſs eine, sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher groſse Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte, Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält- nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son- derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen, traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le- bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er- scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor- stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth, sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total- Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese Summe auf einmal im Bewuſstseyn, sondern abwechselnd steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist. So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt, die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht die Bemerkung, daſs die Mittelwelt, das heiſst, die blei- benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich nun bald deutlicher zeigen wird.
Anmerkung.
Man erwartet vielleicht, daſs ich hier am Ende noch etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0482"n="447"/>
keit und die Wandelbarkeit gröſser. Schon für die Mo-<lb/>
ralität giebt es nicht bloſs eine einzige, gleichmäſsig in<lb/>
sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus<lb/>
dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloſs eine,<lb/>
sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher groſse<lb/>
Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten<lb/>
im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte,<lb/>
Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische<lb/>
Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält-<lb/>
nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der<lb/>
Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt<lb/>
und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son-<lb/>
derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen,<lb/>
traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne<lb/>
Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le-<lb/>
bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er-<lb/>
scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor-<lb/>
stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth,<lb/>
sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr<lb/>
das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total-<lb/>
Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese<lb/>
Summe auf einmal im Bewuſstseyn, sondern abwechselnd<lb/>
steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden<lb/>
eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch<lb/>
sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist.<lb/>
So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt,<lb/>
die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die<lb/>
ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den<lb/>
Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht<lb/>
die Bemerkung, daſs die Mittelwelt, das heiſst, die blei-<lb/>
benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall<lb/>
unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich<lb/>
nun bald deutlicher zeigen wird.</p></div><lb/><divn="4"><head><hirendition="#g">Anmerkung</hi>.</head><lb/><p>Man erwartet vielleicht, daſs ich hier am Ende noch<lb/>
etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[447/0482]
keit und die Wandelbarkeit gröſser. Schon für die Mo-
ralität giebt es nicht bloſs eine einzige, gleichmäſsig in
sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus
dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloſs eine,
sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher groſse
Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten
im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte,
Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische
Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält-
nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der
Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt
und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son-
derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen,
traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne
Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le-
bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er-
scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor-
stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth,
sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr
das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total-
Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese
Summe auf einmal im Bewuſstseyn, sondern abwechselnd
steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden
eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch
sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist.
So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt,
die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die
ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den
Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht
die Bemerkung, daſs die Mittelwelt, das heiſst, die blei-
benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall
unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich
nun bald deutlicher zeigen wird.
Anmerkung.
Man erwartet vielleicht, daſs ich hier am Ende noch
etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/482>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.