Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen, im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe- kannte heissen mag, dessen tragische Muse des Kothurns nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro- mans noch gross genug ist; -- ich lese ihn, ohne auf die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner- messlichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst- lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. -- Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem, für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte seines grossen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber- gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge- wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so dass von dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne- bukadnezarn erhärten muss, von dem der Dichter singt:
Er musste toll, auf sieben Jahre, werden, Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.
Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil- nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies, die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen. Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein! Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den
unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und von den Werken, die es hervorgebracht hat.
Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen, im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe- kannte heiſsen mag, dessen tragische Muse des Kothurns nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro- mans noch groſs genug ist; — ich lese ihn, ohne auf die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner- meſslichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst- lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. — Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem, für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte seines groſsen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber- gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge- wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so daſs von dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne- bukadnezarn erhärten muſs, von dem der Dichter singt:
Er muſste toll, auf sieben Jahre, werden, Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.
Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil- nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies, die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen. Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein! Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den
unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und von den Werken, die es hervorgebracht hat.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0471"n="436"/>
Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen,<lb/>
im Stillen den <hirendition="#g">Walter Scott</hi> oder wie jener Unbe-<lb/>
kannte heiſsen mag, dessen tragische Muse des Kothurns<lb/>
nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro-<lb/>
mans noch groſs genug ist; — ich lese ihn, ohne auf<lb/>
die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner-<lb/>
meſslichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern<lb/>
darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst-<lb/>
lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. —<lb/>
Doch da ich des <hirendition="#g">Ariost</hi> erwähnte, kann ich an dem,<lb/>
für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte<lb/>
seines groſsen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber-<lb/>
gehn! Bekanntlich hat sich <hirendition="#g">Ariost</hi> einen Helden ge-<lb/>
wählt, der <hirendition="#g">rasend</hi> ist; völlig rasend toll; so daſs von<lb/>
dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die<lb/>
Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit<lb/>
sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne-<lb/>
bukadnezarn erhärten muſs, von dem der Dichter singt:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Er muſste toll, auf sieben Jahre, werden,</l><lb/><l>Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.</l></lg><lb/><p>Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts<lb/>
mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil-<lb/>
nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch<lb/>
für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch<lb/>
keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man<lb/>
sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl<lb/>
ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies,<lb/>
die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge<lb/>
sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen.<lb/>
Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt<lb/>
aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des<lb/>
Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein!<lb/>
Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den<lb/><notexml:id="seg2pn_8_2"prev="#seg2pn_8_1"place="foot"n="*)">unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und<lb/>
von den Werken, die es hervorgebracht hat.</note><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[436/0471]
Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen,
im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe-
kannte heiſsen mag, dessen tragische Muse des Kothurns
nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro-
mans noch groſs genug ist; — ich lese ihn, ohne auf
die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner-
meſslichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern
darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst-
lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. —
Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem,
für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte
seines groſsen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber-
gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge-
wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so daſs von
dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die
Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit
sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne-
bukadnezarn erhärten muſs, von dem der Dichter singt:
Er muſste toll, auf sieben Jahre, werden,
Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.
Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts
mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil-
nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch
für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch
keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man
sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl
ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies,
die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge
sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen.
Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt
aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des
Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein!
Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den
*)
*) unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und
von den Werken, die es hervorgebracht hat.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/471>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.