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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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dem Bewusstseyn, und das Zusammengefasste will nicht
mehr wachsen.

(Das nämliche gilt, mit gehöriger Veränderung, nicht
bloss von Grössen die man ins Unendliche sich ausdeh-
nen lässt, sondern auch von den Theilungen, die sich
nach einerley Regel wiederhohlen, so oft man will.)

Getrennt von praktischen Beziehungen, und gerei-
nigt von Verwechselungen, ist das Unendliche Nieman-
des Freund. Jeder fühlt, dass er sich darin verliert, so-
bald er den Anfangspunct der Construction fahren lässt,
und keine bestimmt gesonderten Glieder mehr vor Au-
gen hat. Alsdann entsteht ein Gefühl des Schwindels.
Etwas Aehnliches würde Derjenige leiden, der in einem
Feen-Palaste von vielen Menschen umgeben wäre, die
einander durchaus glichen; er würde in jedem den an-
dern erblicken; er würde unterscheiden wollen und nicht
können; die Reihe seiner Vorstellungen würde vorwärts
streben, und doch immer auf der alten Stelle bleiben.
So auch, wenn im Unendlichen das Fortgehn nicht wei-
ter führt, weil jeder Punct immer noch die Mitte ist.
Der Traum hat ähnliche Zustände; man ist stets im Be-
griff zu thun, was nie geschieht. Kein Wunder, dass
die Mathematiker sich gesträubt haben, das Unendliche
zuzulassen; obgleich der Begriff der Intensität des Wach-
sens oder Abnehmens vollkommen fähig ist, bestimmte
Verhältnisse (Differential-quotienten) zu bilden. Von
Kunstwerken hat man zuweilen gerühmt, dass sie das
Unendliche offenbarten; schwerlich mit Zustimmung wah-
rer Künstler, die gerade in geschlossenen Umrissen, scharf
gezeichneten Charakteren, und im Individualisiren des
Allgemeinen ihr Verdienst suchen; den schwebenden Dunst
und Nebel aber möglichst vermeiden.

Gleichwohl hat das Unendliche, schon als solches,
seine eifrigen Verehrer. Warum? Aus zweyen merk-
würdigen psychologischen Gründen.

1) Das Unendliche wird aufgefasst als das Unge-
hemmte, als die Sphäre der Freyheit.

dem Bewuſstseyn, und das Zusammengefaſste will nicht
mehr wachsen.

(Das nämliche gilt, mit gehöriger Veränderung, nicht
bloſs von Gröſsen die man ins Unendliche sich ausdeh-
nen läſst, sondern auch von den Theilungen, die sich
nach einerley Regel wiederhohlen, so oft man will.)

Getrennt von praktischen Beziehungen, und gerei-
nigt von Verwechselungen, ist das Unendliche Nieman-
des Freund. Jeder fühlt, daſs er sich darin verliert, so-
bald er den Anfangspunct der Construction fahren läſst,
und keine bestimmt gesonderten Glieder mehr vor Au-
gen hat. Alsdann entsteht ein Gefühl des Schwindels.
Etwas Aehnliches würde Derjenige leiden, der in einem
Feen-Palaste von vielen Menschen umgeben wäre, die
einander durchaus glichen; er würde in jedem den an-
dern erblicken; er würde unterscheiden wollen und nicht
können; die Reihe seiner Vorstellungen würde vorwärts
streben, und doch immer auf der alten Stelle bleiben.
So auch, wenn im Unendlichen das Fortgehn nicht wei-
ter führt, weil jeder Punct immer noch die Mitte ist.
Der Traum hat ähnliche Zustände; man ist stets im Be-
griff zu thun, was nie geschieht. Kein Wunder, daſs
die Mathematiker sich gesträubt haben, das Unendliche
zuzulassen; obgleich der Begriff der Intensität des Wach-
sens oder Abnehmens vollkommen fähig ist, bestimmte
Verhältnisse (Differential-quotienten) zu bilden. Von
Kunstwerken hat man zuweilen gerühmt, daſs sie das
Unendliche offenbarten; schwerlich mit Zustimmung wah-
rer Künstler, die gerade in geschlossenen Umrissen, scharf
gezeichneten Charakteren, und im Individualisiren des
Allgemeinen ihr Verdienst suchen; den schwebenden Dunst
und Nebel aber möglichst vermeiden.

Gleichwohl hat das Unendliche, schon als solches,
seine eifrigen Verehrer. Warum? Aus zweyen merk-
würdigen psychologischen Gründen.

1) Das Unendliche wird aufgefaſst als das Unge-
hemmte, als die Sphäre der Freyheit.

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[382/0417] dem Bewuſstseyn, und das Zusammengefaſste will nicht mehr wachsen. (Das nämliche gilt, mit gehöriger Veränderung, nicht bloſs von Gröſsen die man ins Unendliche sich ausdeh- nen läſst, sondern auch von den Theilungen, die sich nach einerley Regel wiederhohlen, so oft man will.) Getrennt von praktischen Beziehungen, und gerei- nigt von Verwechselungen, ist das Unendliche Nieman- des Freund. Jeder fühlt, daſs er sich darin verliert, so- bald er den Anfangspunct der Construction fahren läſst, und keine bestimmt gesonderten Glieder mehr vor Au- gen hat. Alsdann entsteht ein Gefühl des Schwindels. Etwas Aehnliches würde Derjenige leiden, der in einem Feen-Palaste von vielen Menschen umgeben wäre, die einander durchaus glichen; er würde in jedem den an- dern erblicken; er würde unterscheiden wollen und nicht können; die Reihe seiner Vorstellungen würde vorwärts streben, und doch immer auf der alten Stelle bleiben. So auch, wenn im Unendlichen das Fortgehn nicht wei- ter führt, weil jeder Punct immer noch die Mitte ist. Der Traum hat ähnliche Zustände; man ist stets im Be- griff zu thun, was nie geschieht. Kein Wunder, daſs die Mathematiker sich gesträubt haben, das Unendliche zuzulassen; obgleich der Begriff der Intensität des Wach- sens oder Abnehmens vollkommen fähig ist, bestimmte Verhältnisse (Differential-quotienten) zu bilden. Von Kunstwerken hat man zuweilen gerühmt, daſs sie das Unendliche offenbarten; schwerlich mit Zustimmung wah- rer Künstler, die gerade in geschlossenen Umrissen, scharf gezeichneten Charakteren, und im Individualisiren des Allgemeinen ihr Verdienst suchen; den schwebenden Dunst und Nebel aber möglichst vermeiden. Gleichwohl hat das Unendliche, schon als solches, seine eifrigen Verehrer. Warum? Aus zweyen merk- würdigen psychologischen Gründen. 1) Das Unendliche wird aufgefaſst als das Unge- hemmte, als die Sphäre der Freyheit.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/417>, abgerufen am 22.11.2024.