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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Einleitung.

Von der Erfahrung sind wir ausgegangen, zur Erfah-
rung kehren wir zurück. Denn alle Speculation, die
nicht auf einem vesten, das heisst, unbestreitbar gege-
benen
Grunde beruht, ist leeres Hirngespinst; und selbst
als Uebung im Denken nur von zweydeutigem Werthe.
Allein in der Behandlung der Erfahrung zeigt sich ein
bedeutender Unterschied zwischen dem synthetischen, und
dem jetzt folgenden analytischen Theile der Psychologie.

So wie die mathematische Physik, wollte sie gleich
Anfangs die ganze Masse der Erfahrungen, die wir über
die Körperwelt besitzen, zu ihrem Gegenstande machen, --
wollte sie von chemischen, elektrischen, magnetischen
Kräften, von Licht und Wärme, von tropfbaren und ela-
stischen Flüssigkeiten auf einmal reden, -- sich in die
unheilbarste Verwirrung stürzen würde; wie sie dagegen
fürs erste sich begnügt, unter allen bewegenden Kräften
nur Eine, die Schwere nämlich, in Untersuchung zu neh-
men: eben so haben wir aus dem unermesslichen Vorrath
empirisch-psychologischer Thatsachen das einzige Factum
des Selbstbewusstseyns herausgehoben, und in ihm den
Stoff und die Aufforderung zu einer langen, noch jetzt
nicht geendigten Arbeit gefunden. Es kommt nicht allein
darauf an, die Erfahrung aufzufassen, sondern sie zu ver-
arbeiten. Die Speculation muss nicht bloss Grund haben,
sondern sie muss in dem Grunde kräftig wurzeln, und die
Wurzel muss einen fruchtbaren Baum erzeugen. Dazu
gehört Zeit; in der That mehr Zeit als die Lebensdauer

II. A

Einleitung.

Von der Erfahrung sind wir ausgegangen, zur Erfah-
rung kehren wir zurück. Denn alle Speculation, die
nicht auf einem vesten, das heiſst, unbestreitbar gege-
benen
Grunde beruht, ist leeres Hirngespinst; und selbst
als Uebung im Denken nur von zweydeutigem Werthe.
Allein in der Behandlung der Erfahrung zeigt sich ein
bedeutender Unterschied zwischen dem synthetischen, und
dem jetzt folgenden analytischen Theile der Psychologie.

So wie die mathematische Physik, wollte sie gleich
Anfangs die ganze Masse der Erfahrungen, die wir über
die Körperwelt besitzen, zu ihrem Gegenstande machen, —
wollte sie von chemischen, elektrischen, magnetischen
Kräften, von Licht und Wärme, von tropfbaren und ela-
stischen Flüssigkeiten auf einmal reden, — sich in die
unheilbarste Verwirrung stürzen würde; wie sie dagegen
fürs erste sich begnügt, unter allen bewegenden Kräften
nur Eine, die Schwere nämlich, in Untersuchung zu neh-
men: eben so haben wir aus dem unermeſslichen Vorrath
empirisch-psychologischer Thatsachen das einzige Factum
des Selbstbewuſstseyns herausgehoben, und in ihm den
Stoff und die Aufforderung zu einer langen, noch jetzt
nicht geendigten Arbeit gefunden. Es kommt nicht allein
darauf an, die Erfahrung aufzufassen, sondern sie zu ver-
arbeiten. Die Speculation muſs nicht bloſs Grund haben,
sondern sie muſs in dem Grunde kräftig wurzeln, und die
Wurzel muſs einen fruchtbaren Baum erzeugen. Dazu
gehört Zeit; in der That mehr Zeit als die Lebensdauer

II. A
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[[1]/0036] Einleitung. Von der Erfahrung sind wir ausgegangen, zur Erfah- rung kehren wir zurück. Denn alle Speculation, die nicht auf einem vesten, das heiſst, unbestreitbar gege- benen Grunde beruht, ist leeres Hirngespinst; und selbst als Uebung im Denken nur von zweydeutigem Werthe. Allein in der Behandlung der Erfahrung zeigt sich ein bedeutender Unterschied zwischen dem synthetischen, und dem jetzt folgenden analytischen Theile der Psychologie. So wie die mathematische Physik, wollte sie gleich Anfangs die ganze Masse der Erfahrungen, die wir über die Körperwelt besitzen, zu ihrem Gegenstande machen, — wollte sie von chemischen, elektrischen, magnetischen Kräften, von Licht und Wärme, von tropfbaren und ela- stischen Flüssigkeiten auf einmal reden, — sich in die unheilbarste Verwirrung stürzen würde; wie sie dagegen fürs erste sich begnügt, unter allen bewegenden Kräften nur Eine, die Schwere nämlich, in Untersuchung zu neh- men: eben so haben wir aus dem unermeſslichen Vorrath empirisch-psychologischer Thatsachen das einzige Factum des Selbstbewuſstseyns herausgehoben, und in ihm den Stoff und die Aufforderung zu einer langen, noch jetzt nicht geendigten Arbeit gefunden. Es kommt nicht allein darauf an, die Erfahrung aufzufassen, sondern sie zu ver- arbeiten. Die Speculation muſs nicht bloſs Grund haben, sondern sie muſs in dem Grunde kräftig wurzeln, und die Wurzel muſs einen fruchtbaren Baum erzeugen. Dazu gehört Zeit; in der That mehr Zeit als die Lebensdauer II. A

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/36>, abgerufen am 21.11.2024.