am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar noch mit einem Schatten des Leibes, ein Verstorbener wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah- rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaassen für die Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent- steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr- lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil- dern der äussern Dinge, aus dem Begehren und Verab- scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch sein Ich vom Leibe ganz losreisst, das mögen die häufi- gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich begraben seyn!
Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil- der äusserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den Leih; sobald aus Beobachtungen schlafender Men- schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor- den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur- sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich- keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken- nen, dass hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die Bilder der äussern Dinge nicht vertilge, sondern sie, die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem- me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel- lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com- plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit- strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend und gehend, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben dieser Wechsel selbst, nämlich der Lauf der Vorstel-
am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar noch mit einem Schatten des Leibes, ein Verstorbener wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah- rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaaſsen für die Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent- steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr- lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil- dern der äuſsern Dinge, aus dem Begehren und Verab- scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch sein Ich vom Leibe ganz losreiſst, das mögen die häufi- gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich begraben seyn!
Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil- der äuſserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den Leih; sobald aus Beobachtungen schlafender Men- schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor- den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur- sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich- keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken- nen, daſs hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die Bilder der äuſsern Dinge nicht vertilge, sondern sie, die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem- me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel- lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com- plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit- strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend und gehend, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben dieser Wechsel selbst, nämlich der Lauf der Vorstel-
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am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar
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zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaaſsen für die
Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent-
steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr-
lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil-
dern der äuſsern Dinge, aus dem Begehren und Verab-
scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere
Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch
sein Ich vom Leibe ganz losreiſst, das mögen die häufi-
gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche
so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich
begraben seyn!
Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil-
der äuſserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen
aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und
inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den
Leih; sobald aus Beobachtungen schlafender Men-
schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor-
den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur-
sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt
des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich-
keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken-
nen, daſs hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die
Bilder der äuſsern Dinge nicht vertilge, sondern sie,
die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem-
me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel-
lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten
Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com-
plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von
irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt
werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit-
strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend
und gehend, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/312>, abgerufen am 22.11.2024.
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