Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar
noch mit einem Schatten des Leibes, ein Verstorbener
wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah-
rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch
zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaassen für die
Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent-
steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr-
lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil-
dern der äussern Dinge, aus dem Begehren und Verab-
scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere
Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch
sein Ich vom Leibe ganz losreisst, das mögen die häufi-
gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche
so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich
begraben seyn
!

Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil-
der äusserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen
aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und
inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den
Leih
; sobald aus Beobachtungen schlafender Men-
schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor-
den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur-
sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt
des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich-
keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken-
nen, dass hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die
Bilder der äussern Dinge nicht vertilge, sondern sie,
die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem-
me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel-
lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten
Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com-
plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von
irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt
werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit-
strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend
und gehend
, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben
dieser Wechsel selbst, nämlich der Lauf der Vorstel-

am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar
noch mit einem Schatten des Leibes, ein Verstorbener
wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah-
rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch
zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaaſsen für die
Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent-
steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr-
lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil-
dern der äuſsern Dinge, aus dem Begehren und Verab-
scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere
Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch
sein Ich vom Leibe ganz losreiſst, das mögen die häufi-
gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche
so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich
begraben seyn
!

Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil-
der äuſserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen
aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und
inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den
Leih
; sobald aus Beobachtungen schlafender Men-
schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor-
den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur-
sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt
des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich-
keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken-
nen, daſs hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die
Bilder der äuſsern Dinge nicht vertilge, sondern sie,
die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem-
me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel-
lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten
Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com-
plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von
irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt
werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit-
strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend
und gehend
, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben
dieser Wechsel selbst, nämlich der Lauf der Vorstel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0312" n="277"/>
am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar<lb/>
noch mit einem <hi rendition="#g">Schatten</hi> des Leibes, ein Verstorbener<lb/>
wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah-<lb/>
rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch<lb/>
zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaa&#x017F;sen für die<lb/>
Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent-<lb/>
steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr-<lb/>
lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil-<lb/>
dern der äu&#x017F;sern Dinge, aus dem Begehren und Verab-<lb/>
scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere<lb/>
Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch<lb/>
sein Ich vom Leibe ganz losrei&#x017F;st, das mögen die häufi-<lb/>
gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche<lb/>
so lauten: <hi rendition="#g">Hier, und auf diese Weise, will <hi rendition="#i">Ich</hi><lb/>
begraben seyn</hi>!</p><lb/>
              <p>Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil-<lb/>
der äu&#x017F;serer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen<lb/>
aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und<lb/>
inneren Wahrnehmen, <hi rendition="#g">als etwas zufälliges für den<lb/>
Leih</hi>; sobald aus Beobachtungen <hi rendition="#g">schlafender</hi> Men-<lb/>
schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor-<lb/>
den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur-<lb/>
sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt<lb/>
des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich-<lb/>
keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken-<lb/>
nen, da&#x017F;s hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die<lb/>
Bilder der äu&#x017F;sern Dinge <hi rendition="#g">nicht vertilge</hi>, sondern sie,<lb/>
die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem-<lb/>
me. Immer sind <hi rendition="#g">sie</hi> also, diese Bilder oder Vorstel-<lb/>
lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten<lb/>
Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com-<lb/>
plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von<lb/><hi rendition="#g">irgend einem einzelnen</hi> unter den Bildern, gesagt<lb/>
werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit-<lb/>
strecke überschaut, findet sie die Bilder <hi rendition="#g">als kommend<lb/>
und gehend</hi>, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben<lb/>
dieser <hi rendition="#g">Wechsel</hi> selbst, nämlich <hi rendition="#g">der Lauf</hi> der Vorstel-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0312] am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar noch mit einem Schatten des Leibes, ein Verstorbener wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah- rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaaſsen für die Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent- steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr- lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil- dern der äuſsern Dinge, aus dem Begehren und Verab- scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch sein Ich vom Leibe ganz losreiſst, das mögen die häufi- gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich begraben seyn! Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil- der äuſserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den Leih; sobald aus Beobachtungen schlafender Men- schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor- den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur- sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich- keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken- nen, daſs hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die Bilder der äuſsern Dinge nicht vertilge, sondern sie, die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem- me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel- lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com- plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit- strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend und gehend, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben dieser Wechsel selbst, nämlich der Lauf der Vorstel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/312
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/312>, abgerufen am 22.11.2024.