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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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der Ichheit, als eines unendlich wichtigen Vorzuges des
Menschen vor allen andern auf Erden lebenden Wesen.
Wiewohl er nun gar nicht zweifelt, dass derjenige, der
das Ich noch nicht sprechen kann, es dennoch in Ge-
danken habe: so fügt er doch mit der, dem wahrhaft
vortrefflichen Denker natürlichen Aufrichtigkeit, Folgen-
des hinzu: "Es ist aber merkwürdig, dass das Kind, was
"schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät
"(vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch
"Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Per-
"son sprach, (Karl will essen, gehen, u. s. w.) und dass
"ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu seyn scheint,
"wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von
"welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart
"zurückkehrt. -- Vorher fühlte es bloss sich selbst,
"jetzt denkt es sich selbst. -- Die Erklärung dieses
"Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer
"fallen."

Ein minder grosser Philosoph hätte vielleicht geglaubt,
die Erklärung sey schon geleistet durch den angegebe-
nen Unterschied zwischen dem Sich fühlen und Sich
denken. Kant im Gegentheil vermisst noch immer die
Erklärung, er vermisst sie gerade an der Stelle, wo er
jene Unterscheidung gemacht hat. Und wahrlich! er zeigt
sich in diesem Vermissen mehr in seinem Lichte, als an
andern Stellen, wo er mit dem Ich, als der ärmsten und
gehaltlosesten aller Vorstellungen, und mit dem Ich
denke
, das alle andre Vorstellungen soll begleiten kön-
nen, so gar leicht fertig wird.

Wir haben unsre Untersuchungen mit Nachweisung
der Widersprüche in dem Gedanken: Ich, begonnen;
und wenn wir noch immer nicht wüssten, was denn an
dem Ich eigentlich das Denkbare sey, möchten wir wohl
noch weniger wissen, was denn das Fühlbare am Ich
seyn möge. Ich hoffe, dass keiner meiner Leser geneigt
sey, sich in diesen Schlupfwinkel eines unbestimmten
Gefühls zu verkriechen.

der Ichheit, als eines unendlich wichtigen Vorzuges des
Menschen vor allen andern auf Erden lebenden Wesen.
Wiewohl er nun gar nicht zweifelt, daſs derjenige, der
das Ich noch nicht sprechen kann, es dennoch in Ge-
danken habe: so fügt er doch mit der, dem wahrhaft
vortrefflichen Denker natürlichen Aufrichtigkeit, Folgen-
des hinzu: „Es ist aber merkwürdig, daſs das Kind, was
„schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät
„(vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch
„Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Per-
„son sprach, (Karl will essen, gehen, u. s. w.) und daſs
„ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu seyn scheint,
„wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von
„welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart
„zurückkehrt. — Vorher fühlte es bloſs sich selbst,
„jetzt denkt es sich selbst. — Die Erklärung dieses
„Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer
„fallen.“

Ein minder groſser Philosoph hätte vielleicht geglaubt,
die Erklärung sey schon geleistet durch den angegebe-
nen Unterschied zwischen dem Sich fühlen und Sich
denken. Kant im Gegentheil vermiſst noch immer die
Erklärung, er vermiſst sie gerade an der Stelle, wo er
jene Unterscheidung gemacht hat. Und wahrlich! er zeigt
sich in diesem Vermissen mehr in seinem Lichte, als an
andern Stellen, wo er mit dem Ich, als der ärmsten und
gehaltlosesten aller Vorstellungen, und mit dem Ich
denke
, das alle andre Vorstellungen soll begleiten kön-
nen, so gar leicht fertig wird.

Wir haben unsre Untersuchungen mit Nachweisung
der Widersprüche in dem Gedanken: Ich, begonnen;
und wenn wir noch immer nicht wüſsten, was denn an
dem Ich eigentlich das Denkbare sey, möchten wir wohl
noch weniger wissen, was denn das Fühlbare am Ich
seyn möge. Ich hoffe, daſs keiner meiner Leser geneigt
sey, sich in diesen Schlupfwinkel eines unbestimmten
Gefühls zu verkriechen.

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[260/0295] der Ichheit, als eines unendlich wichtigen Vorzuges des Menschen vor allen andern auf Erden lebenden Wesen. Wiewohl er nun gar nicht zweifelt, daſs derjenige, der das Ich noch nicht sprechen kann, es dennoch in Ge- danken habe: so fügt er doch mit der, dem wahrhaft vortrefflichen Denker natürlichen Aufrichtigkeit, Folgen- des hinzu: „Es ist aber merkwürdig, daſs das Kind, was „schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät „(vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch „Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Per- „son sprach, (Karl will essen, gehen, u. s. w.) und daſs „ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu seyn scheint, „wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von „welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart „zurückkehrt. — Vorher fühlte es bloſs sich selbst, „jetzt denkt es sich selbst. — Die Erklärung dieses „Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer „fallen.“ Ein minder groſser Philosoph hätte vielleicht geglaubt, die Erklärung sey schon geleistet durch den angegebe- nen Unterschied zwischen dem Sich fühlen und Sich denken. Kant im Gegentheil vermiſst noch immer die Erklärung, er vermiſst sie gerade an der Stelle, wo er jene Unterscheidung gemacht hat. Und wahrlich! er zeigt sich in diesem Vermissen mehr in seinem Lichte, als an andern Stellen, wo er mit dem Ich, als der ärmsten und gehaltlosesten aller Vorstellungen, und mit dem Ich denke, das alle andre Vorstellungen soll begleiten kön- nen, so gar leicht fertig wird. Wir haben unsre Untersuchungen mit Nachweisung der Widersprüche in dem Gedanken: Ich, begonnen; und wenn wir noch immer nicht wüſsten, was denn an dem Ich eigentlich das Denkbare sey, möchten wir wohl noch weniger wissen, was denn das Fühlbare am Ich seyn möge. Ich hoffe, daſs keiner meiner Leser geneigt sey, sich in diesen Schlupfwinkel eines unbestimmten Gefühls zu verkriechen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/295>, abgerufen am 17.07.2024.