bemächtigte, oder im Gegentheil, wie lange sie dieselbe noch einer eignen freyen Bewegung überliess.
Die appercipirende Vorstellungsmasse kann nicht aus neuen, noch in wenigen Verbindungen befindlichen Vor- stellungen bestehn; nur in den vielfach zusammengeflos- senen und durch einander verstärkten Totalkräften wird man sie suchen dürfen. Also vorzüglich in den Begrif- fen, (§. 121.) und in den daraus gebildeten Urtheilen, die man auch Maximen nennen kann. Von dem ge- bildeten Menschen verlangt man, dass er Maximen habe; man muthet ihm an, dass diese stark genug, dass sie rasch und lebendig und in ihrem Wirken unermüdet seyen, um ihm gegen das Unkluge, Unanständige, Un- sittliche, was freylich in einem jeden Menschen sich re- gen könne, zuverlässigen Schutz zu gewähren. Aber so genau kennt man den psychologischen Mechanismus nicht, um zu wissen, wie viel Kraft die Maximen haben müs- sen, und wie wenig stark die Phantasien und Affecten seyn müssen, wenn diese von jenen sollen schnell genug wahrgenommen, und zum Gegenstande der Betrachtung gemacht werden. Auf jeden Fall lässt sich zu jeder Stärke der roheren Aufregungen eine andere Stärke der entge- genwirkenden Vorstellungen hinzudenken, welche hinrei- chen würde, um jene zu überflügeln, zu fixiren, zu be- herrschen. Und dies sind also diejenigen inneren Wahr- nehmungen, deren Möglichkeit man im allgemeinen vor- aussetzt.
Hingegen bey einer schnellen, rasch vorübergehen- den, sehr mannigfaltigen, sehr neuen Entwickelung von Gedanken; oder auch bey sehr schwachen Vorstellungen, welche von dem geringsten Drucke auf die Schwelle ge- worfen werden: da ist die innere Wahrnehmung weder möglich, noch auch wird sie für möglich gehalten. Hier- über belehrt die allgemeine Erfahrung einen Jeden deut- lich genug. Höchstens wird in solchen Fällen etwas ge- fühlt, das sich nicht aussprechen lässt. Das heisst, die andern, stärkeren, älteren, ruhiger liegenden Vorstel-
bemächtigte, oder im Gegentheil, wie lange sie dieselbe noch einer eignen freyen Bewegung überlieſs.
Die appercipirende Vorstellungsmasse kann nicht aus neuen, noch in wenigen Verbindungen befindlichen Vor- stellungen bestehn; nur in den vielfach zusammengeflos- senen und durch einander verstärkten Totalkräften wird man sie suchen dürfen. Also vorzüglich in den Begrif- fen, (§. 121.) und in den daraus gebildeten Urtheilen, die man auch Maximen nennen kann. Von dem ge- bildeten Menschen verlangt man, daſs er Maximen habe; man muthet ihm an, daſs diese stark genug, daſs sie rasch und lebendig und in ihrem Wirken unermüdet seyen, um ihm gegen das Unkluge, Unanständige, Un- sittliche, was freylich in einem jeden Menschen sich re- gen könne, zuverlässigen Schutz zu gewähren. Aber so genau kennt man den psychologischen Mechanismus nicht, um zu wissen, wie viel Kraft die Maximen haben müs- sen, und wie wenig stark die Phantasien und Affecten seyn müssen, wenn diese von jenen sollen schnell genug wahrgenommen, und zum Gegenstande der Betrachtung gemacht werden. Auf jeden Fall läſst sich zu jeder Stärke der roheren Aufregungen eine andere Stärke der entge- genwirkenden Vorstellungen hinzudenken, welche hinrei- chen würde, um jene zu überflügeln, zu fixiren, zu be- herrschen. Und dies sind also diejenigen inneren Wahr- nehmungen, deren Möglichkeit man im allgemeinen vor- aussetzt.
Hingegen bey einer schnellen, rasch vorübergehen- den, sehr mannigfaltigen, sehr neuen Entwickelung von Gedanken; oder auch bey sehr schwachen Vorstellungen, welche von dem geringsten Drucke auf die Schwelle ge- worfen werden: da ist die innere Wahrnehmung weder möglich, noch auch wird sie für möglich gehalten. Hier- über belehrt die allgemeine Erfahrung einen Jeden deut- lich genug. Höchstens wird in solchen Fällen etwas ge- fühlt, das sich nicht aussprechen läſst. Das heiſst, die andern, stärkeren, älteren, ruhiger liegenden Vorstel-
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bemächtigte, oder im Gegentheil, wie lange sie dieselbe
noch einer eignen freyen Bewegung überlieſs.
Die appercipirende Vorstellungsmasse kann nicht aus
neuen, noch in wenigen Verbindungen befindlichen Vor-
stellungen bestehn; nur in den vielfach zusammengeflos-
senen und durch einander verstärkten Totalkräften wird
man sie suchen dürfen. Also vorzüglich in den Begrif-
fen, (§. 121.) und in den daraus gebildeten Urtheilen,
die man auch Maximen nennen kann. Von dem ge-
bildeten Menschen verlangt man, daſs er Maximen habe;
man muthet ihm an, daſs diese stark genug, daſs sie
rasch und lebendig und in ihrem Wirken unermüdet
seyen, um ihm gegen das Unkluge, Unanständige, Un-
sittliche, was freylich in einem jeden Menschen sich re-
gen könne, zuverlässigen Schutz zu gewähren. Aber so
genau kennt man den psychologischen Mechanismus nicht,
um zu wissen, wie viel Kraft die Maximen haben müs-
sen, und wie wenig stark die Phantasien und Affecten
seyn müssen, wenn diese von jenen sollen schnell genug
wahrgenommen, und zum Gegenstande der Betrachtung
gemacht werden. Auf jeden Fall läſst sich zu jeder Stärke
der roheren Aufregungen eine andere Stärke der entge-
genwirkenden Vorstellungen hinzudenken, welche hinrei-
chen würde, um jene zu überflügeln, zu fixiren, zu be-
herrschen. Und dies sind also diejenigen inneren Wahr-
nehmungen, deren Möglichkeit man im allgemeinen vor-
aussetzt.
Hingegen bey einer schnellen, rasch vorübergehen-
den, sehr mannigfaltigen, sehr neuen Entwickelung von
Gedanken; oder auch bey sehr schwachen Vorstellungen,
welche von dem geringsten Drucke auf die Schwelle ge-
worfen werden: da ist die innere Wahrnehmung weder
möglich, noch auch wird sie für möglich gehalten. Hier-
über belehrt die allgemeine Erfahrung einen Jeden deut-
lich genug. Höchstens wird in solchen Fällen etwas ge-
fühlt, das sich nicht aussprechen läſst. Das heiſst,
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/255>, abgerufen am 25.11.2024.
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