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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Man glaube nicht, dass die Kirche sie dagegen
beschützen werde! Ihr sind die Vernunftoffenba-
rungen oft genug angeboten worden; sie kennt
deren wandelbare Natur, und empfindet sehr
stark das Bedürfniss der Vestigkeit in diesen
ohnehin wandelbaren Zeiten. Man glaube eben
so wenig, dass der innere, selbstständige Werth
der Gefühle, aus welchen jene Zumuthungen
hervorgehn, ihnen Nachdruck geben werde. Denn
dieser Werth wird gar nicht angefochten, viel-
mehr sehr gern anerkannt; aber geleugnet wird,
dass er der Werth eines Beweises sey. Sehr gut
gemeint, sehr schön empfunden ist Manches,
was gleichwohl nur einen poetischen, keinen
wissenschaftlichen Werth besitzt. Sehr tiefe Ge-
fühle kann ein Individuum in sich erzeugen,
ohne dass darum die Lehre vom Gefühlvermö-
gen, oder gar die vom Anschauen und Erken-
nen nur den geringsten Zusatz bekäme. Die
subjective, individuale Natur der Gefühle, ihr
inniger Zusammenhang mit der Zeitgeschichte,
und mit den Partheyungen, die sie herbeyführt,
ist eben so bekannt, als die eigenthümliche Weich-
heit derjenigen Charaktere, die sich darin gefal-
len, Gefühle zu Grundlagen ihrer Ueberzeugung
zu machen.

Der Leser weiss übrigens schon aus dem
ersten Theile dieses Werks, dass es viel zu alt

weitesten Sinne gehörigen Untersuchungen erleichtert, doch
nicht die Stelle derselben vertreten kann: dies wird der Leser
vielfältig wahrzunehmen Gelegenheit haben. Ganz umsonst sucht
man in Lehren über Sinn, Verstand und Vernunft, den Ersatz
für das, was man anderwärts versäumte und verdarb.

Man glaube nicht, daſs die Kirche sie dagegen
beschützen werde! Ihr sind die Vernunftoffenba-
rungen oft genug angeboten worden; sie kennt
deren wandelbare Natur, und empfindet sehr
stark das Bedürfniſs der Vestigkeit in diesen
ohnehin wandelbaren Zeiten. Man glaube eben
so wenig, daſs der innere, selbstständige Werth
der Gefühle, aus welchen jene Zumuthungen
hervorgehn, ihnen Nachdruck geben werde. Denn
dieser Werth wird gar nicht angefochten, viel-
mehr sehr gern anerkannt; aber geleugnet wird,
daſs er der Werth eines Beweises sey. Sehr gut
gemeint, sehr schön empfunden ist Manches,
was gleichwohl nur einen poetischen, keinen
wissenschaftlichen Werth besitzt. Sehr tiefe Ge-
fühle kann ein Individuum in sich erzeugen,
ohne daſs darum die Lehre vom Gefühlvermö-
gen, oder gar die vom Anschauen und Erken-
nen nur den geringsten Zusatz bekäme. Die
subjective, individuale Natur der Gefühle, ihr
inniger Zusammenhang mit der Zeitgeschichte,
und mit den Partheyungen, die sie herbeyführt,
ist eben so bekannt, als die eigenthümliche Weich-
heit derjenigen Charaktere, die sich darin gefal-
len, Gefühle zu Grundlagen ihrer Ueberzeugung
zu machen.

Der Leser weiſs übrigens schon aus dem
ersten Theile dieses Werks, daſs es viel zu alt

weitesten Sinne gehörigen Untersuchungen erleichtert, doch
nicht die Stelle derselben vertreten kann: dies wird der Leser
vielfältig wahrzunehmen Gelegenheit haben. Ganz umsonst sucht
man in Lehren über Sinn, Verstand und Vernunft, den Ersatz
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[XV/0022] Man glaube nicht, daſs die Kirche sie dagegen beschützen werde! Ihr sind die Vernunftoffenba- rungen oft genug angeboten worden; sie kennt deren wandelbare Natur, und empfindet sehr stark das Bedürfniſs der Vestigkeit in diesen ohnehin wandelbaren Zeiten. Man glaube eben so wenig, daſs der innere, selbstständige Werth der Gefühle, aus welchen jene Zumuthungen hervorgehn, ihnen Nachdruck geben werde. Denn dieser Werth wird gar nicht angefochten, viel- mehr sehr gern anerkannt; aber geleugnet wird, daſs er der Werth eines Beweises sey. Sehr gut gemeint, sehr schön empfunden ist Manches, was gleichwohl nur einen poetischen, keinen wissenschaftlichen Werth besitzt. Sehr tiefe Ge- fühle kann ein Individuum in sich erzeugen, ohne daſs darum die Lehre vom Gefühlvermö- gen, oder gar die vom Anschauen und Erken- nen nur den geringsten Zusatz bekäme. Die subjective, individuale Natur der Gefühle, ihr inniger Zusammenhang mit der Zeitgeschichte, und mit den Partheyungen, die sie herbeyführt, ist eben so bekannt, als die eigenthümliche Weich- heit derjenigen Charaktere, die sich darin gefal- len, Gefühle zu Grundlagen ihrer Ueberzeugung zu machen. Der Leser weiſs übrigens schon aus dem ersten Theile dieses Werks, daſs es viel zu alt *) *) weitesten Sinne gehörigen Untersuchungen erleichtert, doch nicht die Stelle derselben vertreten kann: dies wird der Leser vielfältig wahrzunehmen Gelegenheit haben. Ganz umsonst sucht man in Lehren über Sinn, Verstand und Vernunft, den Ersatz für das, was man anderwärts versäumte und verdarb.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. XV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/22>, abgerufen am 29.03.2024.