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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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standesanschauungen (Ideen) angenommen, und in de-
ren Beleuchtung und Verdeutlichung alle wahre Erkennt-
niss gesetzt zu haben *); er will dagegen, dass die Pas-
sivität
der Sinnlichkeit, die Spontaneität des Ver-
standes, den Unterschied machen solle. Hieher gehört
jener §. 15., u. s. w. der Kritik der reinen Vernunft, wo
Kant etwas sehr wichtiges zu lehren glaubt, indem er
erinnert, aller Analysis müsse eine Synthesis vorangehn;
und diese sey eine Handlung des Verstandes, auch
wenn sie nur das Mannigfaltige der Anschauung in die
Vorstellung Eines Objects vereinige.

In der That ist dieses ein sehr wichtiger, sehr durch-
greifender und verderblicher Irrthum für die ganze
Kantische Lehre. Denn freylich mussten wohl Seelen-
vermögen angenommen und abgetheilt werden, wenn das
Mannigfaltige der Anschauung nicht anders zusammen-
kommen, nicht anders Objecte zu erkennen geben konnte,
als nachdem sua sponte gleichsam ein höherer Geist, der
Verstand, den sinnlichen Stoff ergriffen und geformt
hatte! Schwerlich giebt es im ganzen Gebiete der Wis-
senschaften ein stärkeres Beyspiel von unnützer Bemü-
hung, das zu erklären, was sich schlechthin von selbst
versteht.

Wie sollen denn wohl die mehrern Vorstellungen
Eines erkennenden Subjects es anfangen, getrennt zu
bleiben? Was denkt man sich bey dieser Trennung?
Etwa dass die Vorstellungen ausser einander liegen?
Und was denkt man sich bey der Verbindung der zuvor

*) Wie schlecht dies zur prästabilirten Harmonie passt, nach
welcher Alles ohne Ausnahme angeboren ist, springt in die Au-
gen. Ich kann mir manche verfehlte Aeusserungen Kants gegen Leib-
nitz
kaum anders erklären, als durch die Voraussetzung, Kant habe
sich dem Eindrucke, den Leibnitzens nouveaux essays wohl machen
können, zu sehr hingegeben; und nicht auf die Accommodation an
Locken geachtet, über die sich Leibnitz gleich im Anfange dieses
Werks erklärt. Auch scheint Kant nicht genug Unterschied zwischen
Leibnitz und Wolff zu machen.

standesanschauungen (Ideen) angenommen, und in de-
ren Beleuchtung und Verdeutlichung alle wahre Erkennt-
niſs gesetzt zu haben *); er will dagegen, daſs die Pas-
sivität
der Sinnlichkeit, die Spontaneität des Ver-
standes, den Unterschied machen solle. Hieher gehört
jener §. 15., u. s. w. der Kritik der reinen Vernunft, wo
Kant etwas sehr wichtiges zu lehren glaubt, indem er
erinnert, aller Analysis müsse eine Synthesis vorangehn;
und diese sey eine Handlung des Verstandes, auch
wenn sie nur das Mannigfaltige der Anschauung in die
Vorstellung Eines Objects vereinige.

In der That ist dieses ein sehr wichtiger, sehr durch-
greifender und verderblicher Irrthum für die ganze
Kantische Lehre. Denn freylich muſsten wohl Seelen-
vermögen angenommen und abgetheilt werden, wenn das
Mannigfaltige der Anschauung nicht anders zusammen-
kommen, nicht anders Objecte zu erkennen geben konnte,
als nachdem sua sponte gleichsam ein höherer Geist, der
Verstand, den sinnlichen Stoff ergriffen und geformt
hatte! Schwerlich giebt es im ganzen Gebiete der Wis-
senschaften ein stärkeres Beyspiel von unnützer Bemü-
hung, das zu erklären, was sich schlechthin von selbst
versteht.

Wie sollen denn wohl die mehrern Vorstellungen
Eines erkennenden Subjects es anfangen, getrennt zu
bleiben? Was denkt man sich bey dieser Trennung?
Etwa daſs die Vorstellungen auſser einander liegen?
Und was denkt man sich bey der Verbindung der zuvor

*) Wie schlecht dies zur prästabilirten Harmonie paſst, nach
welcher Alles ohne Ausnahme angeboren ist, springt in die Au-
gen. Ich kann mir manche verfehlte Aeuſserungen Kants gegen Leib-
nitz
kaum anders erklären, als durch die Voraussetzung, Kant habe
sich dem Eindrucke, den Leibnitzens nouveaux eſſays wohl machen
können, zu sehr hingegeben; und nicht auf die Accommodation an
Locken geachtet, über die sich Leibnitz gleich im Anfange dieses
Werks erklärt. Auch scheint Kant nicht genug Unterschied zwischen
Leibnitz und Wolff zu machen.
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[167/0202] standesanschauungen (Ideen) angenommen, und in de- ren Beleuchtung und Verdeutlichung alle wahre Erkennt- niſs gesetzt zu haben *); er will dagegen, daſs die Pas- sivität der Sinnlichkeit, die Spontaneität des Ver- standes, den Unterschied machen solle. Hieher gehört jener §. 15., u. s. w. der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant etwas sehr wichtiges zu lehren glaubt, indem er erinnert, aller Analysis müsse eine Synthesis vorangehn; und diese sey eine Handlung des Verstandes, auch wenn sie nur das Mannigfaltige der Anschauung in die Vorstellung Eines Objects vereinige. In der That ist dieses ein sehr wichtiger, sehr durch- greifender und verderblicher Irrthum für die ganze Kantische Lehre. Denn freylich muſsten wohl Seelen- vermögen angenommen und abgetheilt werden, wenn das Mannigfaltige der Anschauung nicht anders zusammen- kommen, nicht anders Objecte zu erkennen geben konnte, als nachdem sua sponte gleichsam ein höherer Geist, der Verstand, den sinnlichen Stoff ergriffen und geformt hatte! Schwerlich giebt es im ganzen Gebiete der Wis- senschaften ein stärkeres Beyspiel von unnützer Bemü- hung, das zu erklären, was sich schlechthin von selbst versteht. Wie sollen denn wohl die mehrern Vorstellungen Eines erkennenden Subjects es anfangen, getrennt zu bleiben? Was denkt man sich bey dieser Trennung? Etwa daſs die Vorstellungen auſser einander liegen? Und was denkt man sich bey der Verbindung der zuvor *) Wie schlecht dies zur prästabilirten Harmonie paſst, nach welcher Alles ohne Ausnahme angeboren ist, springt in die Au- gen. Ich kann mir manche verfehlte Aeuſserungen Kants gegen Leib- nitz kaum anders erklären, als durch die Voraussetzung, Kant habe sich dem Eindrucke, den Leibnitzens nouveaux eſſays wohl machen können, zu sehr hingegeben; und nicht auf die Accommodation an Locken geachtet, über die sich Leibnitz gleich im Anfange dieses Werks erklärt. Auch scheint Kant nicht genug Unterschied zwischen Leibnitz und Wolff zu machen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/202>, abgerufen am 22.11.2024.