des Anfangspuncts mit allen seinen Reproductionen. Jede solche Reproduction, die, wenn man sie ins Bewusstseyn höher hebt, selbst eine Seitenlinie ergiebt, und nun wie- derum von jedem ihrer Puncte aus seitwärts re- producirt, -- war um gleichviel fortgeschoben; das heisst, sie war zum zweytenmale dargestellt, und so ne- ben sich selbst gelegt, dass die zuvor beschriebene Con- vergenz oder Divergenz nicht eintreten konnte. -- Jetzt aber soll die erste Linie sich krümmen. Also müssen ihre correspondirenden Seitenlinien nunmehr die vorige Negation der Convergenz oder Divergenz verlieren; das heisst, sie müssen convergiren und divergiren; wobey eine Gewalt, die wir unsern Vorstellungen anthun, dunkel gefühlt wird. Daher wird das Krumme zum Symbol des Falschen und des Bösen; hingegen das Gerade zum Symbol des Rechten.
Man ziehe Parallelen, gleichviel ob krumme oder gerade. Hier kommen uns glücklicherweise die Mathematiker zu Hülfe; die den Parallelismus krummer Linien längst auf die seitliche gleich grosse Reproduction zurückgeführt haben, indem sie fordern, man solle alle Normalen einer Curve ziehen, hierauf gleiche Stücke ab- schneiden, und die Endpuncte verbinden, um die Paral- lele jener Curve zu haben. Warum denn bey den ge- raden Linien so grosse Umstände? --
Die Geometrie nimmt den Punct, als liegend in der Ebene, und als beweglich in derselben, an. Dieses ihr erstes Gegebenes, um dessen Ursprung sie sich nicht kümmert, sollte sie gleich Anfangs doch wenigstens analysiren. Statt dessen springt sie ab von der Sache; sie construirt zwey, drey, von einander unab- hängige Linien, lässt sie zum Dreyecke zusammen stossen, und meint nun erst recht in ihrem Elemente zu seyn, wenn sie anfangen kann, von der Congruenz der Dreyecke zu reden. Kein Wunder, dass ihr hinterher die Begriffe fehlen, die sie übersprang, als es Zeit war, sie zu ent- wickeln. Bekanntlich kommen bey den Parallelen drey
des Anfangspuncts mit allen seinen Reproductionen. Jede solche Reproduction, die, wenn man sie ins Bewuſstseyn höher hebt, selbst eine Seitenlinie ergiebt, und nun wie- derum von jedem ihrer Puncte aus seitwärts re- producirt, — war um gleichviel fortgeschoben; das heiſst, sie war zum zweytenmale dargestellt, und so ne- ben sich selbst gelegt, daſs die zuvor beschriebene Con- vergenz oder Divergenz nicht eintreten konnte. — Jetzt aber soll die erste Linie sich krümmen. Also müssen ihre correspondirenden Seitenlinien nunmehr die vorige Negation der Convergenz oder Divergenz verlieren; das heiſst, sie müssen convergiren und divergiren; wobey eine Gewalt, die wir unsern Vorstellungen anthun, dunkel gefühlt wird. Daher wird das Krumme zum Symbol des Falschen und des Bösen; hingegen das Gerade zum Symbol des Rechten.
Man ziehe Parallelen, gleichviel ob krumme oder gerade. Hier kommen uns glücklicherweise die Mathematiker zu Hülfe; die den Parallelismus krummer Linien längst auf die seitliche gleich groſse Reproduction zurückgeführt haben, indem sie fordern, man solle alle Normalen einer Curve ziehen, hierauf gleiche Stücke ab- schneiden, und die Endpuncte verbinden, um die Paral- lele jener Curve zu haben. Warum denn bey den ge- raden Linien so groſse Umstände? —
Die Geometrie nimmt den Punct, als liegend in der Ebene, und als beweglich in derselben, an. Dieses ihr erstes Gegebenes, um dessen Ursprung sie sich nicht kümmert, sollte sie gleich Anfangs doch wenigstens analysiren. Statt dessen springt sie ab von der Sache; sie construirt zwey, drey, von einander unab- hängige Linien, läſst sie zum Dreyecke zusammen stoſsen, und meint nun erst recht in ihrem Elemente zu seyn, wenn sie anfangen kann, von der Congruenz der Dreyecke zu reden. Kein Wunder, daſs ihr hinterher die Begriffe fehlen, die sie übersprang, als es Zeit war, sie zu ent- wickeln. Bekanntlich kommen bey den Parallelen drey
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des Anfangspuncts mit allen seinen Reproductionen. Jede
solche Reproduction, die, wenn man sie ins Bewuſstseyn
höher hebt, selbst eine Seitenlinie ergiebt, und nun wie-
derum von jedem ihrer Puncte aus seitwärts re-
producirt, — war um gleichviel fortgeschoben; das
heiſst, sie war zum zweytenmale dargestellt, und so ne-
ben sich selbst gelegt, daſs die zuvor beschriebene Con-
vergenz oder Divergenz nicht eintreten konnte. — Jetzt
aber soll die erste Linie sich krümmen. Also müssen
ihre correspondirenden Seitenlinien nunmehr die vorige
Negation der Convergenz oder Divergenz verlieren; das
heiſst, sie müssen convergiren und divergiren; wobey eine
Gewalt, die wir unsern Vorstellungen anthun, dunkel
gefühlt wird. Daher wird das Krumme zum Symbol
des Falschen und des Bösen; hingegen das Gerade zum
Symbol des Rechten.
Man ziehe Parallelen, gleichviel ob krumme
oder gerade. Hier kommen uns glücklicherweise die
Mathematiker zu Hülfe; die den Parallelismus krummer
Linien längst auf die seitliche gleich groſse Reproduction
zurückgeführt haben, indem sie fordern, man solle alle
Normalen einer Curve ziehen, hierauf gleiche Stücke ab-
schneiden, und die Endpuncte verbinden, um die Paral-
lele jener Curve zu haben. Warum denn bey den ge-
raden Linien so groſse Umstände? —
Die Geometrie nimmt den Punct, als liegend
in der Ebene, und als beweglich in derselben,
an. Dieses ihr erstes Gegebenes, um dessen Ursprung
sie sich nicht kümmert, sollte sie gleich Anfangs doch
wenigstens analysiren. Statt dessen springt sie ab von
der Sache; sie construirt zwey, drey, von einander unab-
hängige Linien, läſst sie zum Dreyecke zusammen stoſsen,
und meint nun erst recht in ihrem Elemente zu seyn,
wenn sie anfangen kann, von der Congruenz der Dreyecke
zu reden. Kein Wunder, daſs ihr hinterher die Begriffe
fehlen, die sie übersprang, als es Zeit war, sie zu ent-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/183>, abgerufen am 24.11.2024.
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