nichts anders als ein concentrirtes System aller Repro- ductionen, die zur Darstellung des Aussereinander geeig- net sind. Wer daran nicht glauben will: der versuche einmal den Punct ohne die Ebene, und überhaupt ohne alle Umgebung -- das heisst, ohne alle davon ausge- hende reihenförmige Reproduction zu denken. Das wird nicht gelingen; man kann den Punct nur irgendwo denken.
Man ziehe eine Linie. Das heisst, man bewege den Punct. Im ersten Beginnen dieser Bewegung wird demnach aus allen möglichen Reproductionen, die von ihm ausgehn konnten, eine hervorgehoben; aber die nunmehr hervortretende Vorstellung gleicht vollkommen der vorigen, daher betrachtet man sie als dieselbe, als den nämlichen Punct, von dem man sagt, er, der eine und gleiche, bewege sich. Also ist das ganze System von Richtungen, die von ihm ausgingen, von einerley Vorrückung ergriffen, und alles, was darin mag unter- schieden werden, ist um gleich viel von der Stelle ge- kommen. -- Soll nun die Vorrückung eben so gleich- mässig fortgesetzt werden: so wird die Linie gerade. Und die gerade Linie ist diejenige, deren Nor- malen (oder andre von ihr seitwärts ausgehende Rich- tungen) sich stets parallel fortbewegen während sie selbst gezogen wird.
Es mag wohl sehr befremden, dass ich den für so räthselhaft gehaltenen Parallelismus ganz unbedenklich in die Erklärung *) der geraden Linie hineinbringe. Allein mit allem Respect gegen die Mathematiker, mit denen ich hier nicht gern streiten möchte, bitte ich, dass man auf sich Acht gebe, was man thue, wenn man in Ge- danken eine Linie zieht. Jedermann wird bekennen, dass ihm dabey ein Raum vorschwebe, der seitwärts von
*) Eine logische Erklärung soll es überhaupt nicht seyn, son- dern eine psychologische Bezeichnung des nisus in unsern Vorstel- lungen.
nichts anders als ein concentrirtes System aller Repro- ductionen, die zur Darstellung des Auſsereinander geeig- net sind. Wer daran nicht glauben will: der versuche einmal den Punct ohne die Ebene, und überhaupt ohne alle Umgebung — das heiſst, ohne alle davon ausge- hende reihenförmige Reproduction zu denken. Das wird nicht gelingen; man kann den Punct nur irgendwo denken.
Man ziehe eine Linie. Das heiſst, man bewege den Punct. Im ersten Beginnen dieser Bewegung wird demnach aus allen möglichen Reproductionen, die von ihm ausgehn konnten, eine hervorgehoben; aber die nunmehr hervortretende Vorstellung gleicht vollkommen der vorigen, daher betrachtet man sie als dieselbe, als den nämlichen Punct, von dem man sagt, er, der eine und gleiche, bewege sich. Also ist das ganze System von Richtungen, die von ihm ausgingen, von einerley Vorrückung ergriffen, und alles, was darin mag unter- schieden werden, ist um gleich viel von der Stelle ge- kommen. — Soll nun die Vorrückung eben so gleich- mäſsig fortgesetzt werden: so wird die Linie gerade. Und die gerade Linie ist diejenige, deren Nor- malen (oder andre von ihr seitwärts ausgehende Rich- tungen) sich stets parallel fortbewegen während sie selbst gezogen wird.
Es mag wohl sehr befremden, daſs ich den für so räthselhaft gehaltenen Parallelismus ganz unbedenklich in die Erklärung *) der geraden Linie hineinbringe. Allein mit allem Respect gegen die Mathematiker, mit denen ich hier nicht gern streiten möchte, bitte ich, daſs man auf sich Acht gebe, was man thue, wenn man in Ge- danken eine Linie zieht. Jedermann wird bekennen, daſs ihm dabey ein Raum vorschwebe, der seitwärts von
*) Eine logische Erklärung soll es überhaupt nicht seyn, son- dern eine psychologische Bezeichnung des nisus in unsern Vorstel- lungen.
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nichts anders als ein concentrirtes System aller Repro-
ductionen, die zur Darstellung des Auſsereinander geeig-
net sind. Wer daran nicht glauben will: der versuche
einmal den Punct ohne die Ebene, und überhaupt ohne
alle Umgebung — das heiſst, ohne alle davon ausge-
hende reihenförmige Reproduction zu denken. Das wird
nicht gelingen; man kann den Punct nur irgendwo
denken.
Man ziehe eine Linie. Das heiſst, man bewege
den Punct. Im ersten Beginnen dieser Bewegung wird
demnach aus allen möglichen Reproductionen, die von
ihm ausgehn konnten, eine hervorgehoben; aber die
nunmehr hervortretende Vorstellung gleicht vollkommen
der vorigen, daher betrachtet man sie als dieselbe, als
den nämlichen Punct, von dem man sagt, er, der eine
und gleiche, bewege sich. Also ist das ganze System
von Richtungen, die von ihm ausgingen, von einerley
Vorrückung ergriffen, und alles, was darin mag unter-
schieden werden, ist um gleich viel von der Stelle ge-
kommen. — Soll nun die Vorrückung eben so gleich-
mäſsig fortgesetzt werden: so wird die Linie gerade.
Und die gerade Linie ist diejenige, deren Nor-
malen (oder andre von ihr seitwärts ausgehende Rich-
tungen) sich stets parallel fortbewegen während
sie selbst gezogen wird.
Es mag wohl sehr befremden, daſs ich den für so
räthselhaft gehaltenen Parallelismus ganz unbedenklich in
die Erklärung *) der geraden Linie hineinbringe. Allein
mit allem Respect gegen die Mathematiker, mit denen
ich hier nicht gern streiten möchte, bitte ich, daſs man
auf sich Acht gebe, was man thue, wenn man in Ge-
danken eine Linie zieht. Jedermann wird bekennen, daſs
ihm dabey ein Raum vorschwebe, der seitwärts von
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/181>, abgerufen am 02.02.2025.
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