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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Verschmelzungshülfe, (vergl. §. 69.) Rückt also der
Blick wieder über den Punct hinaus, oder fasst er auch
nur zugleich mit demselben das Umliegende auf: so trei-
ben doch, wegen der Verschmelzung, alle neuen Auffas-
sungen der Fläche die, zwar zum Sinken gedrängte, Vor-
stellung des Punctes wieder hervor, in so fern sie die
frühern, ihnen gleichartigen, aber mit jener verschmolze-
nen, Vorstellungen fortdauernd beleben. Hieraus kann
man erkennen, was in der Seele vorgehe, indem sie be-
schäfftigt ist im Merken auf den Punct in der Fläche.

Drittens: die Richtung des fortlaufenden Blickes
durchschneide eine auf der Fläche gezeichnete Linie
(oder auch den Umriss einer Gestalt). Das Auge wird
an der Linie fortlaufen; und zwar in einem stumpfen
Winkel gegen seine vorige Richtung. Denn es wird
Anfangs, indem der Blick die Linie schneidet, gleichsam
von zwey Kräften getrieben; eine davon ist eben jene
Verschmelzungshülfe, welche auch schon auf den einzel-
nen Punct das Auge zurückwirft; die aber jetzt nur nö-
thig hat, senkrecht auf die, überall gleichgefärbte Linie
das Auge, nachdem es die Linie durchschnitten hatte,
oder zu durchschneiden im Begriff war, zurückzuwenden;
anstatt der andern Kraft dient die einmal vorhandene
Geschwindigkeit des forteilenden Blickes. Diese Zusam-
menwirkung ändert unaufhörlich, und sehr schnell, die
Direction, in welcher der Blick fortgeht, bis die letztere
mit der Linie zusammentrifft. Man muss dabey beden-
ken, dass der Anfang der Abänderung nicht erst dann
geschieht, wenn der Mittelpunct des Gesichtsfeldes auf
die Linie trifft, sondern sobald der Contrast zwischen
der Linie, und dem jenseits gelegenen Theile der Fläche
merklich werden kann.

Viertens: in geringer Entfernung von der Linie sey
gleich Anfangs ein Punct aufgefasst, und dessen Vorstel-
lung, wie sich versteht, verschmolzen mit den übrigen
Auffassungen. Indem das Auge an der Linie fortläuft,
entfernt es sich von diesem Puncte; die Vorstellung des-

Verschmelzungshülfe, (vergl. §. 69.) Rückt also der
Blick wieder über den Punct hinaus, oder faſst er auch
nur zugleich mit demselben das Umliegende auf: so trei-
ben doch, wegen der Verschmelzung, alle neuen Auffas-
sungen der Fläche die, zwar zum Sinken gedrängte, Vor-
stellung des Punctes wieder hervor, in so fern sie die
frühern, ihnen gleichartigen, aber mit jener verschmolze-
nen, Vorstellungen fortdauernd beleben. Hieraus kann
man erkennen, was in der Seele vorgehe, indem sie be-
schäfftigt ist im Merken auf den Punct in der Fläche.

Drittens: die Richtung des fortlaufenden Blickes
durchschneide eine auf der Fläche gezeichnete Linie
(oder auch den Umriſs einer Gestalt). Das Auge wird
an der Linie fortlaufen; und zwar in einem stumpfen
Winkel gegen seine vorige Richtung. Denn es wird
Anfangs, indem der Blick die Linie schneidet, gleichsam
von zwey Kräften getrieben; eine davon ist eben jene
Verschmelzungshülfe, welche auch schon auf den einzel-
nen Punct das Auge zurückwirft; die aber jetzt nur nö-
thig hat, senkrecht auf die, überall gleichgefärbte Linie
das Auge, nachdem es die Linie durchschnitten hatte,
oder zu durchschneiden im Begriff war, zurückzuwenden;
anstatt der andern Kraft dient die einmal vorhandene
Geschwindigkeit des forteilenden Blickes. Diese Zusam-
menwirkung ändert unaufhörlich, und sehr schnell, die
Direction, in welcher der Blick fortgeht, bis die letztere
mit der Linie zusammentrifft. Man muſs dabey beden-
ken, daſs der Anfang der Abänderung nicht erst dann
geschieht, wenn der Mittelpunct des Gesichtsfeldes auf
die Linie trifft, sondern sobald der Contrast zwischen
der Linie, und dem jenseits gelegenen Theile der Fläche
merklich werden kann.

Viertens: in geringer Entfernung von der Linie sey
gleich Anfangs ein Punct aufgefaſst, und dessen Vorstel-
lung, wie sich versteht, verschmolzen mit den übrigen
Auffassungen. Indem das Auge an der Linie fortläuft,
entfernt es sich von diesem Puncte; die Vorstellung des-

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[139/0174] Verschmelzungshülfe, (vergl. §. 69.) Rückt also der Blick wieder über den Punct hinaus, oder faſst er auch nur zugleich mit demselben das Umliegende auf: so trei- ben doch, wegen der Verschmelzung, alle neuen Auffas- sungen der Fläche die, zwar zum Sinken gedrängte, Vor- stellung des Punctes wieder hervor, in so fern sie die frühern, ihnen gleichartigen, aber mit jener verschmolze- nen, Vorstellungen fortdauernd beleben. Hieraus kann man erkennen, was in der Seele vorgehe, indem sie be- schäfftigt ist im Merken auf den Punct in der Fläche. Drittens: die Richtung des fortlaufenden Blickes durchschneide eine auf der Fläche gezeichnete Linie (oder auch den Umriſs einer Gestalt). Das Auge wird an der Linie fortlaufen; und zwar in einem stumpfen Winkel gegen seine vorige Richtung. Denn es wird Anfangs, indem der Blick die Linie schneidet, gleichsam von zwey Kräften getrieben; eine davon ist eben jene Verschmelzungshülfe, welche auch schon auf den einzel- nen Punct das Auge zurückwirft; die aber jetzt nur nö- thig hat, senkrecht auf die, überall gleichgefärbte Linie das Auge, nachdem es die Linie durchschnitten hatte, oder zu durchschneiden im Begriff war, zurückzuwenden; anstatt der andern Kraft dient die einmal vorhandene Geschwindigkeit des forteilenden Blickes. Diese Zusam- menwirkung ändert unaufhörlich, und sehr schnell, die Direction, in welcher der Blick fortgeht, bis die letztere mit der Linie zusammentrifft. Man muſs dabey beden- ken, daſs der Anfang der Abänderung nicht erst dann geschieht, wenn der Mittelpunct des Gesichtsfeldes auf die Linie trifft, sondern sobald der Contrast zwischen der Linie, und dem jenseits gelegenen Theile der Fläche merklich werden kann. Viertens: in geringer Entfernung von der Linie sey gleich Anfangs ein Punct aufgefaſst, und dessen Vorstel- lung, wie sich versteht, verschmolzen mit den übrigen Auffassungen. Indem das Auge an der Linie fortläuft, entfernt es sich von diesem Puncte; die Vorstellung des-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/174>, abgerufen am 05.05.2024.