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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Anschauung der eignen Person als des Besitzers; die
Habsucht erhöht noch dazu das eigne Selbst vor Anderen,
die sie beraubt; der Fanatismus aller Art ist versunken
in Verehrung seines Götzen, und zugleich will er die
Verehrer dieses Götzen, die Seinigen, allein glänzen
sehn, und den Anblick eines andern Cultus nicht dulden.

Nehmen wir nun rückwärts den Weg der Abstraction,
so sehen wir, dass im Allgemeinen jeder Leiden-
schaft eine herrschende Vorstellung zum Grunde
liegt, die nicht etwan nur einmal, nur auf Ver-
anlassungen, sondern fortwährend, und ver-
möge einer bestehenden Disposition des Ge-
müths, sich als Begierde äussert
. Wo die Vor-
stellung des begehrten Gegenstandes nicht selbst die
herrschende ist, wo vielmehr ihr Hervorstreben grossen-
theils durch andre, mit ihr verbundene bestimmt wird,
da ist keine Leidenschaft.

Die Begehrungen des Sinnengenusses sind alsdann
nicht
Leidenschaften, wenn sie nur zu Zeiten, durch
Naturbedürfnisse veranlasst, hervortreten. Die Sorge für
Ehre und Geld ist nicht an sich selbst Leidenschaft,
wenn sie ausgeht von der Nothwendigkeit, Vertrauen zu
besitzen für eine Wirksamkeit und für den Umgang un-
ter Menschen, die Kosten bestreiten zu können für einen
anständigen Lebensunterhalt. Die Regungen des Fana-
tismus werden sich legen, so bald die Untersuchung sei-
nes Gegenstandes beginnt; und derjenige wird nicht fa-
natisch verfahren, der aus Einsicht in die Gründe seines
Cultus handelt.

Was ist es, das durch die Leidenschaften zunächst
leidet? Es ist die Fähigkeit, sich nach Motiven zu be-
stimmen, sich nach den Umständen zu richten, in wie-
fern
diese ein solches Handeln widerrathen, wozu die
Leidenschaft antreibt. -- Verwandelt man diese Fähig-
keit in ein Gemüthsvermögen, etwan unter dem Namen
des Verstandes oder der Vernunft, so kommt sogleich
die Ungereimtheit zu Tage, dass die Leidenschaften das-

Anschauung der eignen Person als des Besitzers; die
Habsucht erhöht noch dazu das eigne Selbst vor Anderen,
die sie beraubt; der Fanatismus aller Art ist versunken
in Verehrung seines Götzen, und zugleich will er die
Verehrer dieses Götzen, die Seinigen, allein glänzen
sehn, und den Anblick eines andern Cultus nicht dulden.

Nehmen wir nun rückwärts den Weg der Abstraction,
so sehen wir, daſs im Allgemeinen jeder Leiden-
schaft eine herrschende Vorstellung zum Grunde
liegt, die nicht etwan nur einmal, nur auf Ver-
anlassungen, sondern fortwährend, und ver-
möge einer bestehenden Disposition des Ge-
müths, sich als Begierde äuſsert
. Wo die Vor-
stellung des begehrten Gegenstandes nicht selbst die
herrschende ist, wo vielmehr ihr Hervorstreben groſsen-
theils durch andre, mit ihr verbundene bestimmt wird,
da ist keine Leidenschaft.

Die Begehrungen des Sinnengenusses sind alsdann
nicht
Leidenschaften, wenn sie nur zu Zeiten, durch
Naturbedürfnisse veranlaſst, hervortreten. Die Sorge für
Ehre und Geld ist nicht an sich selbst Leidenschaft,
wenn sie ausgeht von der Nothwendigkeit, Vertrauen zu
besitzen für eine Wirksamkeit und für den Umgang un-
ter Menschen, die Kosten bestreiten zu können für einen
anständigen Lebensunterhalt. Die Regungen des Fana-
tismus werden sich legen, so bald die Untersuchung sei-
nes Gegenstandes beginnt; und derjenige wird nicht fa-
natisch verfahren, der aus Einsicht in die Gründe seines
Cultus handelt.

Was ist es, das durch die Leidenschaften zunächst
leidet? Es ist die Fähigkeit, sich nach Motiven zu be-
stimmen, sich nach den Umständen zu richten, in wie-
fern
diese ein solches Handeln widerrathen, wozu die
Leidenschaft antreibt. — Verwandelt man diese Fähig-
keit in ein Gemüthsvermögen, etwan unter dem Namen
des Verstandes oder der Vernunft, so kommt sogleich
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[106/0141] Anschauung der eignen Person als des Besitzers; die Habsucht erhöht noch dazu das eigne Selbst vor Anderen, die sie beraubt; der Fanatismus aller Art ist versunken in Verehrung seines Götzen, und zugleich will er die Verehrer dieses Götzen, die Seinigen, allein glänzen sehn, und den Anblick eines andern Cultus nicht dulden. Nehmen wir nun rückwärts den Weg der Abstraction, so sehen wir, daſs im Allgemeinen jeder Leiden- schaft eine herrschende Vorstellung zum Grunde liegt, die nicht etwan nur einmal, nur auf Ver- anlassungen, sondern fortwährend, und ver- möge einer bestehenden Disposition des Ge- müths, sich als Begierde äuſsert. Wo die Vor- stellung des begehrten Gegenstandes nicht selbst die herrschende ist, wo vielmehr ihr Hervorstreben groſsen- theils durch andre, mit ihr verbundene bestimmt wird, da ist keine Leidenschaft. Die Begehrungen des Sinnengenusses sind alsdann nicht Leidenschaften, wenn sie nur zu Zeiten, durch Naturbedürfnisse veranlaſst, hervortreten. Die Sorge für Ehre und Geld ist nicht an sich selbst Leidenschaft, wenn sie ausgeht von der Nothwendigkeit, Vertrauen zu besitzen für eine Wirksamkeit und für den Umgang un- ter Menschen, die Kosten bestreiten zu können für einen anständigen Lebensunterhalt. Die Regungen des Fana- tismus werden sich legen, so bald die Untersuchung sei- nes Gegenstandes beginnt; und derjenige wird nicht fa- natisch verfahren, der aus Einsicht in die Gründe seines Cultus handelt. Was ist es, das durch die Leidenschaften zunächst leidet? Es ist die Fähigkeit, sich nach Motiven zu be- stimmen, sich nach den Umständen zu richten, in wie- fern diese ein solches Handeln widerrathen, wozu die Leidenschaft antreibt. — Verwandelt man diese Fähig- keit in ein Gemüthsvermögen, etwan unter dem Namen des Verstandes oder der Vernunft, so kommt sogleich die Ungereimtheit zu Tage, daſs die Leidenschaften das-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/141>, abgerufen am 21.11.2024.